Rede zur Lage der EU: "Eine vitale Union in einer fragilen Welt"
Wie sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die "Welt von Morgen" vorstellt, stand im Zentrum der diesjährigen Rede zur Lage der Union am 16. September 2020. Abgesehen von den aktuellsten Themen Coronavirus-Krise, Klima und Migration bot die Rede Einblicke in die politischen Pläne der EU-Kommission für das kommende Jahr.
Am 16. September 2020 präsentierte die EU-Kommissionspräsidentin im Rahmen der jährlich im Herbst stattfindenden Rede zur Lage der Union ihre Visionen für die Zukunft der Europäischen Union. Für Ursula von der Leyen, die sich seit einem Jahr im Amt befindet, ergab sich die Möglichkeit, erstmalig ihre Pläne für das kommende Jahr vorzustellen.
Der Schutz der Gesundheit von Europäerinnen und Europäern
Die aktuell weltweite Coronavirus-Krise wird die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch im kommenden Jahr intensiv beschäftigen. Aus diesem Grund betonte die EU-Kommissionspräsidentin, die EU müsse "eine stärkere Europäische Gesundheitsunion aufbauen. Wir müssen unsere Krisenvorsorge und das Management gegen grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen stärken."
Umgesetzt werden soll das vor allem durch ein angemessen finanziertes "EU4Health"-Programm und eine Stärkung der schon vorhandenen EU-Institutionen in diesem Bereich, wie die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) sowie das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Zudem möchte die EU-Kommission auch eine neue Agentur für fortgeschrittene biomedizinische Spitzenforschung und Entwicklung (BARDA) aufbauen, um die Fähigkeit Europas zu verbessern, auf grenzüberschreitende Bedrohungen zu reagieren. Die Kommissionspräsidentin verwies dabei auch auf die geplante Konferenz zur Zukunft Europas, wo die Stärkung des Gesundheitswesens in Europa thematisiert werden soll.
Europaministerin Karoline Edtstadler sieht die Konferenz zur Zukunft Europas ebenfalls als ein bedeutendes Projekt: "Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte in ihrer Rede zur Lage der Union, dass die Konferenz zur Zukunft Europas eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Coronavirus-Krise in Europa spielen wird. Ich teile diese Einschätzung voll und ganz. Wir beschäftigen uns hierzulande im Rahmen der Österreich-Dialoge bereits intensiv mit diesem Thema und haben alle Bürgerinnen und Bürger dazu eingeladen, ihre Ideen und Wünsche zu EU-Themen einzubringen. Es ist jetzt besonders wichtig, den Blick nach vorne zu richten und die richtigen Lehren aus der Krise zu ziehen."
Eine EU, die schützt
In der derzeitigen Situation, die nicht nur eine Gesundheits-, sondern vor allem auch Wirtschaftskrise ist, sieht die EU-Kommission ihren Fokus auch in der sozialen Marktwirtschaft, durch welche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Unternehmen bestmöglich vor externen Problemen geschützt werden sollen. In diesem Bereich möchte die EU-Kommission einen Rechtsrahmen für Mindestlöhne vorschlagen. Auch Maßnahmen zur Stärkung des Binnenmarktes und des Schengen-Raumes, der Wirtschafts- und Sozialunion, eine Aktualisierung der Industriestrategie der EU sowie ein angepasster Wettbewerbsrahmen sind im kommenden Jahr vorgesehen.
Bei der Stärkung des europäischen Binnenmarktes könne die EU-Kommission auf die volle Unterstützung Österreichs zählen, betonte in diesem Zusammenhang auch die Europaministerin: "Gerade vor dem Hintergrund des 'Brexit' muss Europa als Einheit auftreten und den Schengen-Raum vertiefen, denn es geht um unsere Freiheit, Wohlstand und Arbeitsplätze."
Reduzierung der Emissionen um 55 Prozent bis zum Jahr 2030
Der "Green Deal" ist, wie schon wie beim Amtsantritt der neuen EU-Kommission vor einem Jahr angekündigt, eines der zentralsten aktuellen Themen. "Um der erste klimaneutrale Kontinent zu werden, schlagen wir vor, das Ziel der Emissionsreduktion bis 2030 auf mindestens 55 Prozent zu erhöhen. Ich gebe zu, dass dies für einige zu viel und für andere nicht genug ist. Aber unsere Wirtschaft und Industrie kann das schaffen. Und sie wollen es auch", betonte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Mit der Erhöhung des Zieles von den ursprünglich vorgesehen 40 Prozent an Emissionsreduzierung auf 55 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 erhofft sich die EU-Kommission, auch andere Kontinente dazu zu bringen, ihre Kohlenstoffgrenzen anzupassen. Passieren soll dies vor allem durch eine Überarbeitung der gesamten europäischen Klima- und Energiegesetzgebung. Zudem sollen 37 Prozent des gesamten Wiederaufbaufonds Next Generation EU (NGEU) für europäische "Green-Deal"-Ziele investiert werden.
Europas digitales Jahrzehnt
Essentiell für die Zukunft ist für die EU-Kommission auch das Thema Digitalisierung, in dem "Europa die Führung übernehmen muss – oder es wird lange anderen folgen müssen", betonte dazu Ursula von der Leyen. Erreicht werden soll das mit einem gemeinsamen Plan für ein digitales Europa mit Zielen für Konnektivität und dem Ausbau von Breitbandverbindungen, einer Stärkung der digitalen Kompetenzen, einer europäischen Datenwirtschaft ("europäischen Cloud") sowie klaren Regeln für Künstliche Intelligenz. 20 Prozent des wirtschaftlichen Wiederaufbaufonds der EU sollen nach den Plänen der EU-Kommission in Digitaltechnik investiert werden. Denn unsere Zukunft sei digital, betonte in diesem Zusammenhang auch die österreichische Europaministerin: "Die Europäische Union muss in europäische Technologieunternehmen investieren, wenn wir diese Zukunft mitgestalten wollen."
Eine vitale Union in einer fragilen Welt
Für den Bereich Außenpolitik fordert die EU-Kommission die Wiederbelebung und Reform des multilateralen Systems, also eine verstärkte Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern, inklusive der großen internationalen Organisationen wie der Vereinten Nationen (UN), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Welthandelsorganisation (WTO). Im Bereich der Außenbeziehung wäre "zumindest bei der Umsetzung von Menschenrechten und Sanktionen" die Abstimmung zwischen den EU-Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit wünschenswert.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte auch ihren Willen zum Aufbau einer neuen transatlantischen Agenda mit den USA, zu einer Einigung mit Großbritannien in Bezug auf den "Brexit" und versprach, demnächst ein wirtschaftliches Erholungspaket für den Westbalkan vorzuschlagen. Eine engere europäische Ausrichtung der Westbalkan-Staaten inklusive Beitrittsperspektive ist der österreichischen Bundesregierung ein besonderes Anliegen, wie auch Europaministerin Edtstadler hervorhob: "Der Start der Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien war eine historische Entscheidung der Europäischen Union. Die EU ist ohne die Staaten des Westbalkan unvollständig."
Ein neuer Asyl- und Migrationspakt
Angekündigt wurde im Rahmen der Rede zur Lage der Union von Seiten der Europäischen Kommission ein neuer Asyl- und Migrationspakt. Details dazu wurden am 23. September 2020 präsentiert. Mit einer "klaren Unterscheidung zwischen denen, die das Recht haben zu bleiben, und Menschen, bei denen es nicht so ist", möchte die EU-Kommission auf Solidarität setzen und klare Regeln für einen gemeinsamen europäischen Umgang mit Migration schaffen. Europaministerin Karoline Edtstadler dazu: "Die Flüchtlingskrise 2015 brachte Zerwürfnisse zwischen den Mitgliedstaaten der EU mit sich. Jetzt geht es darum, eine funktionierende gesamteuropäische Lösung zu finden. Europa braucht flexible Solidarität."
Rechtstaatlichkeit
Ende September 2020 präsentierte die EU-Kommission einen ersten Jahresbericht über das Thema Rechtstaatlichkeit, der seitens der Kommission künftig einmal jährlich zur Situation in allen Mitgliedstaaten veröffentlicht werden soll. Der Bericht soll als Früherkennung für Herausforderungen im Bereich von fundamentalen Rechten, wie zum Beispiel Meinungs- und Pressefreiheit, dienen. Hier forderte die EU-Kommissionspräsidentin, finanzielle EU-Mittel nur unter der Gewährleistung der Rechtstaatlichkeit auszugeben.
Anti-Rassismus und Bekämpfung von Hassreden und Diskriminierung
Ein europäischer Aktionsplan gegen Rassismus soll in Zukunft die Gesetze zur ethnischen Gleichbehandlung stärken und die Liste der Straftaten auf EU-Ebene auf alle Formen von Hassdelikten und Hassreden ausweiten. Dazu soll eine eigene Anti-Rassismus-Koordinatorin beziehungsweise ein eigener Anti-Rassismus-Koordinator von Seiten der EU-Kommission ernannt werden. Auch die Stärkung der LGBTQI-Rechte (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender) und die gegenseitige Anerkennung von Familienbeziehungen in der EU sind für Ursula von der Leyen von großer Bedeutung.
Hintergrundinformationen zur Rede zur Lage der Union
Die Rede zur Lage der Union (#SOTEU) ist eine jährlich stattfindende Rede der Präsidentin oder des Präsidenten der Europäischen Kommission im Plenum des Europäischen Parlaments. Angelehnt an die jährlich stattfindende Rede des US-amerikanischen Präsidenten gibt die Rede einen Ausblick über die politischen Herausforderungen und Ziele für das kommende Jahr und soll die Arbeit der EU-Kommission somit transparenter machen.
Die Rede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird von einer Absichtserklärung begleitet, die an den Präsidenten des Europäischen Parlaments, David Sassoli, und an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die den rotierenden EU-Ratsvorsitz innehat, adressiert ist. Die Erklärung enthält eine Liste von Initiativen, welche die EU-Kommission im Laufe des kommenden Jahres vorzulegen gedenkt, um die geplanten Ziele zu erreichen.
Weitere Informationen
- Pressemitteilung zur Rede zur Lage der Union von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Kommission, 16. September 2020
- Rede zur Lage der Union von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in voller Länge, EU-Kommission, 16. September 2020
- Letter of Intent to President David Maria Sassoli and to Chancellor Angela Merkel (PDF)
- Tätigkeitsbericht "Die Kommission von der Leyen: ein Jahr im Amt, EU-Kommission, 16. September 2020 (PDF)