Zur Genese des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) vom 1. Oktober 1920
Die Ausarbeitung einer Verfassung zählte zu den zentralen Herausforderungen, denen sich die aus den Wahlen 1919 hervorgegangene Konstituierende Nationalversammlung und die aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen im März 1919 gebildete Staatsregierung gegenübersahen. Allerdings gerieten die diesbezüglichen Tätigkeiten bereits zu Beginn ins Stocken, da die Verhandlungen um den Vertrag von St. Germain die Staatsregierung unter Karl Renner die ersten Monate stark in Anspruch nahmen. Zwar hatte Renner noch vor seiner Abfahrt nach St. Germain im Mai 1919 Hans Kelsen mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs auf Basis einer "bundesstaatlichen Struktur" beauftragt, doch auch die danach in Gang gekommenen Arbeiten und Verhandlungen verliefen kompliziert und schleppend. Mit dem Christlichsozialen Michael Mayr wurde im Oktober 1919 ein eigener Staatssekretär für die Ausarbeitung der Verfassung bestellt. Im Zuge zweier Länderkonferenzen im Frühjahr 1920 trachtete dieser danach, die Forderungen der Bundesländer in die Verhandlungen einfließen zu lassen. Staatskanzler Karl Renner versuchte mit Vizekanzler Jodok Fink, Staatssekretär Michael Mayr und Hans Kelsen einen beschlussreifen Entwurf zustande zu bringen, doch gelang bis zum Auseinanderbrechen der Regierung Renner Ende Juni 1920 keine Einigung mehr.
Die Gespräche um die Verfassung verlagerten sich nun von der Ebene der Regierung auf den Verfassungsausschuss der Konstituierenden Nationalversammlung. Hans Kelsen wurde auch dort als Experte herangezogen. Ende September 1920 erzielten die beiden großen politischen Antipoden der Ersten Republik, der Sozialdemokrat Otto Bauer und der Christlichsoziale Ignaz Seipel, zu einem Zeitpunkt, als ein endgültiges Scheitern der Verhandlungen um die Verfassung bereits im Raum stand, doch noch einen Kompromiss, der unter anderem darin bestand, dass jene Fragen, in denen eine Einigung nicht gelang (Grund- und Freiheitsrechte, Finanzverfassung, Kultus, Schule und Ehe) ausgeklammert wurden. Das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus dem Jahr 1867 wurde in die neue Konstitution übernommen. Der Verfassungsausschuss konnte den gemeinsamen Entwurf am 26. September 1920 fertigstellen. Am 1. Oktober 1920 wurde er von der Konstituierenden Nationalversammlung in ihrer letzten Sitzung vor den für 17. Oktober 1920 angesetzten Neuwahlen beschlossen. Mit der ersten Sitzung des neugewählten Nationalrates am 10. November 1920 trat das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) in Kraft.
Die Einigung über die neue Verfassung war ein letzter großer Kompromiss zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen zu Beginn der Ersten Republik. Ein bedeutender Anteil an der Formulierung und Systematik der Verfassung liegt bei Hans Kelsen, der die Verhandlungen von Anfang an als Verfassungsjurist begleitet hatte.
Helmut Wohnout