Nehammer und Scholz fordern in einem gemeinsamen Appell Waffenstillstand in der Ukraine
Arbeitsbesuch in Deutschland – Nehammer zur Forderung Putins: "Was liegt, das pickt", Gaslieferungen werden bis zu Vertragsanpassungen in Euro bezahlt
"Wir sind hier, um unsere gemeinsame Politik abzustimmen. Als österreichischer Bundeskanzler bin ich froh, einen starken Partner an der Seite zu haben, der klar europäisch ausgerichtet ist und der betont, wie wichtig es ist, dass wir innerhalb der Europäischen Union gemeinsam die großen Herausforderungen dieser Zeit bewältigen können", sagte Bundeskanzler Karl Nehammer nach einem Arbeitsgespräch mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, bei dem sich die beiden Regierungschefs insbesondere über die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, über außen- und europapolitische sowie bilaterale Themen austauschten. Nehammer war in Begleitung von Integrationsministerin Susanne Raab nach Berlin gereist, um eine Reihe von Gesprächen mit Mitgliedern der deutschen Bundesregierung zu führen.
"Leid der Menschen im Ukraine-Konflikt trifft uns alle"
In einem gemeinsamen Appell forderten die beiden Regierungschefs den russischen Präsidenten Wladimir Putin dazu auf, den Krieg gegen die Ukraine einzustellen, einem Waffenstillstand zuzustimmen, humanitäre Versorgung zu ermöglichen und wirkliche Friedensverhandlungen zu führen. Die Sanktionen gegen Russland würden auch weiterhin entschlossen umgesetzt. Nun gehe es darum, Schlupflöcher zu schließen und den Druck auf Putin aufrecht zu erhalten.
Ebenso wie für Deutschland stellt der Krieg in der Ukraine auch für Österreich eine große Herausforderung dar. "Was uns alle trifft, ist das Leid der Menschen in der Ukraine selbst. Es ist unsere Pflicht, den Menschen Vorort, aber auch den Staaten, die unmittelbar von der Fluchtbewegung betroffen sind, zu helfen. In Österreich sind jetzt schon 38.000 Ukrainerinnen und Ukrainer angekommen. Es sind Frauen und Kinder, die rasch integriert werden müssen. Es ist gut zu sehen, dass die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und auch in Österreich so hilfsbereit sind und dass ein guter europäischer Geist herrscht", so Nehammer. Aufgrund seiner Bedeutung als einer der größten Weizenimporteure hat dieser Konflikt auch Auswirkungen auf die Welternährung. Für die Europäer ist dieser Konflikt ein Alarmzeichen, der dazu Anlass gebe, weiter über den eigenen Horizont hinauszublicken und weltweit Verbündete für die europäische Politik zu finden.
Österreich ist von Erdgas aus Russischer Föderation abhängig
Auch wenn Österreich bei den erneuerbaren Energien mit 75 Prozent eine durchaus herzeigbare Quote erziele, so wäre das Land zu 25 Prozent abhängig von Erdgas. 80 Prozent davon würden aus der Russischen Föderation importiert. Wie andere Länder auch, sei auch Österreich von diesen Gasexporten abhängig. Dennoch sei die Verhängung von Sanktionen der Europäischen Union richtig gewesen, da diese die Russische Föderation schon jetzt schwer getroffen haben – auch wenn sie ihren Preis hätten. "Die Sanktionen haben jetzt schon ihre Wirkung gezeigt. Aber auch Österreich ist davon getroffen. Aber die Schmerzen, die die österreichische Wirtschaft im Moment erleidet sind nichts gegen die Schmerzen, die die Ukrainerinnen und Ukrainer derzeit erleiden müssen. Daher ein klares Bekenntnis zu den Sanktionen, wenn sie sinnvoll und richtig sind", so Nehammer. Die Sanktionen müssten so hart wie möglich sein, dürfen aber gleichzeitig den, der sie verhängt hat, nicht so schwächen, dass er sie nicht mehr fortführen könne.
Daher sei auch die Frage der Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen ein Gebot der Stunde. "Der Krieg in der Ukraine und die Politik der Russischen Föderation haben klargemacht, dass wir grundsächlich auf dem richtigen Weg sind", so Nehammer. Diese Interessen seien mit den europäischen Partnern gemeinsam zu verwirklichen. Denn das klare Ziel für die Zukunft sei es, sich noch schneller von der Lieferung fossiler Energieträger aus der Russischen Föderation unabhängig zu machen und sich diversifizierter aufzustellen. Eine solche Umstellung sei aber nur mittel- und langfristig möglich. Dieser Prozess brauche seine Zeit und müsse mit aller zu Gebote stehenden Ehrlichkeit angesprochen werden. "Es ist ein furchtbares Gefühl, von russischem Gas abhängig zu sein. Aber Gefühle dürfen uns nicht dabei beeinflussen, wenn es um die Energieversorgungssicherheit geht. Denn das Gas wird nicht nur für private Haushalte eingesetzt, sondern auch in der Industrie benötigt. Da geht es um Arbeitsplätze und um die Erhaltung des Wohlstandes", so Nehammer.
"Menschen auf dem Westbalkan eine Perspektive bieten"
In manchen Balkanstaaten fürchtet man aufgrund der Einflussmöglichkeiten der Russischen Föderation ein Übergreifen des Ukraine-Konfliktes auf den Balkan. Im Hinblick auf ganz konkrete Zukunftsschritte versicherte Nehammer, dass Österreich gerne an der Seite der Bundesrepublik Deutschland den Prozess des Brückenbauens begleitet, um den Beitrittsprozess der Westbalkanstaaten in die Europäische Union positiv zu beeinflussen. "Wir müssen einen Gang zuschalten und den Menschen in diesen Ländern tatsächlich eine fruchtbringende Perspektive bieten. Der Westbalkan ist seit langem ein wichtiger geostrategischer Raum für Österreich. Wir haben eine lange Tradition und Geschichte mit den Ländern des Westbalkans. Auch hier gilt es, das zu verstärken, was schon oft angesprochen wurde: Wir brauchen nicht nur das Reden, sondern auch das Tun", so Nehammer.
Auf der einen Seite müsse man innerhalb der Europäischen Union dafür werben, den Beitrittsprozess der Staaten des Westbalkans zuzulassen. Gleichzeit müsse man auch den bisher geleisteten Anstrengungen einzelner Staaten Rechnung tragen, die sich bisher sehr bei der Umsetzung europäischer Maßstäbe bemüht haben. Daneben gebe es auch Staaten wie Bosnien-Herzegowina, die weiterhin Unterstützung benötigen.
"Österreich wird dazu seinen Beitrag leisten"
"Unsere Aufgabe ist es, in den wichtigsten Punkten Kommunikationsscharniere zu bilden und dort zu helfen, wo politische Prozesse beschleunigt werden müssen. Es ist eine Verpflichtung für uns, dass ein Raum, der so viel Gewalt und Schrecken erlebt hat, gerade jetzt in der Phase der politischen Bewährung nicht alleine gelassen wird. Österreich wird dazu seinen Beitrag leisten", so der österreichische Bundeskanzler, der dafür plädierte, auch einen proaktiven und konstruktiven Dialog mit Serbien, dem vermutlich "wesentlichsten Player" auf dem Westbalkan, zu führen.
"Was liegt, das pickt" – Energieembargo faktisch nicht durchführbar
Zu der von Präsident Putin geforderten Bezahlung der russischen Gaslieferungen in Rubel hielt Bundeskanzler Nehammer nach einem Treffen mit dem deutschen Vizekanzler Habeck am Freitag fest, dass es sich um eine "politische Ankündigung" handle. Noch sei es zu keinen Vertragsveränderungen gekommen, das Gas werde nach wie vor in vollem Umfang geliefert. Falls es zu der entsprechenden Modifikation in den privatwirtschaftlichen Verträgen komme, werde überprüft, ob es den Sanktionen entspreche oder nicht. Bis dahin gelte: "Was liegt, das pickt", so Nehammer.
Erneut bekräftigte der österreichische Regierungschef, dass er ein russisches Energieembargo ablehne: "Diese Frage stellt sich für uns als Industrienationen nicht. Eine Energiekrise würde nicht nur Arbeitsplätze und die Industrie, sondern auch die Energiewende gefährden", so Nehammer. Daher gehe er davon aus, dass die Gaslieferverträge mit der OMV bis zum Jahr 2040 unverändert aufrecht bleiben. Das billige russische Gas ermögliche Österreichs Wohlstand. Die Energiewende würde Zeit, massive Investitionen und eine Vereinfachung der Genehmigungsverfahren benötigen. Daher sei ein Energieembargo keine politische, sondern eine faktische Frage.
Hohe Inflation durch Entlastungspakete abfedern
Die Inflation sei "derzeit hoch", hielt Kanzler Nehammer des Weiteren fest. Die österreichische Bundesregierung setze Maßnahmen, um etwa die hohen Energiepreise abzufedern. Österreich sei wie Deutschland betroffen und wolle mittel- bis langfristig die Abhängigkeit von russischem Gas reduzieren. Bei ihrem gemeinsamen Gespräch sei man übereingekommen, dass die beiden Länder "eng abgestimmt" vorgehen werden: "Gleiche Interessenslagen, gleiche Herausforderungen", so Nehammer.
Zum Abschluss des Arbeitsbesuchs in Deutschland stand noch ein Treffen mit Finanzminister Christian Lindner auf dem Programm.
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