Frühjahrsprognose 2022: Neue Herausforderungen für die europäische Wirtschaft
Krieg in der Ukraine hat Folgen für Frühjahrsprognose: Rohstoffpreise, Lieferunterbrechungen und weitere Unsicherheiten schwächen Konjunktur ab – 2023 Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent in der EU beziehungsweise 1,9 Prozent in Österreich erwartet – Inflationsrate soll 2023 sinken – Arbeitslosenquote geht weiter zurück
Aufgrund des Krieges in der Ukraine hat die Europäische Kommission die Wachstumsprognosen für die europäische Wirtschaft korrigiert: Statt, wie bisher erwartet, um 4 Prozent soll das Wirtschaftswachstum sowohl in den 27 EU-Mitgliedstaaten wie auch in den 19 Ländern der Eurozone 2022 um 2,7 Prozent wachsen. Österreichs Wirtschaft wächst 2022 um 3,9 Prozent; das sind um 0,4 Prozentpunkte weniger als bisher angenommen. Diese Zahlen gehen aus der Frühjahrsprognose hervor, welche die Kommission am 16. Mai 2022 vorgelegt hat.
Konjunktur- und Inflationsprognose der Kommission mit großer Unsicherheit behaftet
Bereits in der am 10. Februar 2022 veröffentlichten Winterprognose hatte die Kommission ihre Vorhersagen aufgrund der Covid-19-Pandemie sowie hoher Energiepreise anpassen müssen. Die unmittelbaren Folgen des Krieges in der Ukraine – etwa anhaltend hohe Preise für Energie und andere Rohstoffe, potenzielle Unterbrechungen der Energieversorgung oder Störungen der Lieferketten – machten nun weitere Korrekturen erforderlich. Am stärksten würden die Volkswirtschaften in der EU und weltweit von den Preisen für Energieerzeugnisse getroffen, so die Analyse der Europäischen Kommission. Dies gelte auch für nicht-energetische Rohstoffe, insbesondere Nahrungsmittel, wie auch für andere grundlegende Waren und Dienstleistungen. Gleichzeitig sinkt die Kaufkraft der privaten Haushalte. Zu den Störungen im Welthandel aufgrund der drastischen Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 in Teilen Chinas kämen kriegsbedingte Logistik- und Lieferkettenunterbrechungen sowie steigende Betriebsmittelkosten für zahlreiche Rohstoffe hinzu, welche die Produktion zusätzlich belasten.
Die Europäische Kommission betont daher die große Unsicherheit, mit welcher die Konjunktur- und Inflationsprognose behaftet sei; diese hänge in hohem Maße vom künftigen Kriegsverlauf und insbesondere von den damit verbundenen Auswirkungen auf die Energiemärkte ab. Auch seien die Folgen der kriegsbedingten wirtschaftlichen Abschottung der EU von Russland zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer einzuschätzen. Zudem bleibe die Covid-19-Pandemie weiterhin ein Risikofaktor.
Exekutiv-Vizepräsident Dombrovskis: "Schwierige Zeit" für europäische Wirtschaft – Arbeitsmarkt entwickle sich jedoch positiv
Valdis Dombrovskis, Exekutiv-Vizepräsident für eine Wirtschaft im Dienste der Menschen, erklärte: "Durch Russlands Krieg gegen die Ukraine durchlebt die Wirtschaft der EU zweifellos eine schwierige Zeit. Zwar wird das Wachstum in diesem und im nächsten Jahr anhalten, aber es wird deutlich geringer ausfallen als zuvor erwartet. Die Unsicherheit und die Risiken hinsichtlich der Prognose werden so lange hoch bleiben, wie Russland seinen Angriffskrieg fortsetzt." Dombrovskis strich jedoch auch "einige positive Faktoren, die es uns ermöglichen, dieser Krise die Stirn zu bieten" hervor. So würden mehr Arbeitsplätze entstehen, wodurch der Arbeitsmarkt für mehr Menschen attraktiv werde und die Arbeitslosigkeit auf einem niedrigen Stand bleibe. Ferner sollte die vollständige Umsetzung der Aufbau- und Resilienzpläne der Mitgliedstaaten der Wirtschaft dringend benötigte Impulse verleihen.
Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni fügte hinzu: "Der Krieg hat zu einem rasanten Anstieg der Energiepreise und weiteren Unterbrechungen der Lieferketten geführt, sodass wir nun längerfristig mit einer höheren Inflation rechnen müssen. Diese Prognose ist jedoch mit hoher Unsicherheit und Risiken behaftet, die in großem Maße von der Entwicklung des russischen Krieges abhängen. Es sind durchaus noch andere Szenarien möglich, in denen das Wachstum möglicherweise geringer und die Inflation höher als in unseren heutigen Prognosen ausfallen."
Wirtschaftswachstum im Jahr 2023 liegt bei 2,3 Prozent in der EU beziehungsweise 1,9 Prozent in Österreich
Für 2023 prognostiziert die Europäische Kommission ein Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent sowohl in der EU als auch im Euroraum – in ihrer Winterprognose hatte sie für das kommende Jahr noch 2,8 Prozent für die EU und 2,7 Prozent für die Euroländer vorhergesagt. In Österreich rechnet die Kommission mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 1,9 Prozent für 2023 – in der Winterprognose war noch von einem BIP-Wachstum um 2,3 Prozent ausgegangen worden.
Das heimische Wirtschaftswachstum 2022 werde nach rund 2 Jahren Coronavirus-Pandemie weiterhin vom Privatkonsum, der Belebung des Tourismus und des Dienstleistungssektors getragen, heißt es in der EU-Prognose. Der russische Einmarsch in der Ukraine sei jedoch ein "Gegenwind für die österreichische Exportindustrie". Die hohen Preise würden zudem die Kaufkraft unter Druck setzen. "Insgesamt erhöht dies die Unsicherheit der wirtschaftlichen Aussichten" für das kommende Jahr, so die Europäische Kommission.
Starker und sich weiter verbessernder Arbeitsmarkt in der EU und in Österreich
Im Jahr 2021 wurden in der EU mehr als 5,2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen und durch den attraktiveren Arbeitsmarkt fast 3,5 Millionen mehr Menschen in Beschäftigung gebracht. Zudem ging die Zahl der Arbeitslosen um fast 1,8 Millionen zurück. Die Arbeitslosenquoten sanken Ende 2021 unter das Rekordtief der Vorjahre. Die Lage am Arbeitsmarkt wird sich voraussichtlich weiter verbessern: Die Beschäftigung in der EU dürfte in diesem Jahr um 1,2 Prozent zulegen, in Österreich sogar um 2,9 Prozent. Die Arbeitsmarktintegration von Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine in die EU fliehen, dürfte nach Angaben der Kommission ab nächstem Jahr spürbar werden.
Die Arbeitslosenquote wird voraussichtlich weiter zurückgehen, und zwar in der EU auf 6,7 Prozent im Jahr 2022 beziehungsweise 6,5 Prozent im Jahr 2023. Im Euro-Währungsgebiet dürfte die Arbeitslosenquote 2022 bei 7,3 Prozent beziehungsweise 7 Prozent im Jahr 2023 liegen. Auch in Österreich entwickelt sich der Arbeitsmarkt positiv und dürfte im laufenden und kommenden Jahr zu sinkenden Arbeitslosenzahlen führen: Nach einer Arbeitslosenquote von 6,2 Prozent im Vorjahr soll die Quote laut Prognose der Kommission 2022 bei 5 Prozent und 2023 bei 4,8 Prozent liegen.
Inflationsrate bleibt im laufenden Jahr hoch und wird 2023 allmählich sinken
Die Prognose für die Inflation in den Euro-Staaten hat sich für das Jahr 2022 von 3,5 Prozent auf 6,1 Prozent im Jahresdurchschnitt verdoppelt. Für die 27 EU-Staaten erwartet die Kommission für 2022 eine durchschnittliche Teuerung von 6,8 Prozent. 2023 soll die Inflation in der Eurozone auf 2,7 Prozent sinken, in der gesamten EU auf 3,2 Prozent.
In Österreich wird die Inflation laut dem Bericht der Kommission 2022 mit 6,0 Prozent ihren Höhepunkt erreichen und allmählich auf 3,0 Prozent im Jahr 2023 zurückgehen. In der Winterprognose war noch von einer durchschnittlichen Teuerung von 3,3 Prozent im Jahr 2022 beziehungsweise von 2,2 Prozent im Jahr 2023 ausgegangen worden.
Staatliche Defizite weiterhin rückläufig
Den Prognosen zufolge wird das Defizit in der EU von 4,7 Prozent des BIP im Jahr 2021 auf 3,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) im Jahr 2022 und auf 2,5 Prozent des BIP im Jahr 2023 zurückgehen. Im Euro-Währungsgebiet sinkt das Defizit im Jahr 2022 auf 3,7 Prozent beziehungsweise 2,5 Prozent im Jahr 2023. Das Defizit des Gesamtstaats sinkt in Österreich den Berechnungen zufolge 2022 auf 3,1 Prozent des BIP und auf 1,5 Prozent im kommenden Jahr.
Nach einem Rückgang von einem historischen Höchststand von fast 92 Prozent des BIP im Jahr 2020 (fast 100 Prozent im Euro-Währungsgebiet) auf rund 90 Prozent (97 Prozent im Euro-Währungsgebiet) im Jahr 2021 dürfte die Gesamtschuldenquote der EU im Jahr 2022 auf rund 87 Prozent und im Jahr 2023 auf 85 Prozent (95 Prozent beziehungsweise 93 Prozent im Euro-Währungsgebiet) zurückgehen. In Österreich hat die Gesamtschuldenquote im Jahr 2021 82,8 Prozent betragen. 2022 soll diese auf 80,0 Prozent, 2023 auf 77,5 Prozent zurückgehen.
Hintergrund: Frühjahrsprognose für die europäische Wirtschaft 2022
Die Europäische Kommission veröffentlich jährlich 2 umfassende Prognosen, jeweils im Frühjahr und im Herbst, die durch 2 Zwischenprognosen im Winter und Sommer ergänzt werden. Die Zwischenprognosen enthalten jährliche und vierteljährliche BIP- und Inflationszahlen für das laufende und das folgende Jahr für alle EU-Mitgliedstaaten sowie die aggregierten Zahlen für die EU insgesamt und für die Euro-Zone. Die Frühjahrsprognose 2022 basiert auf einer Reihe technischer Annahmen in Bezug auf Wechselkurse, Zinssätze und Rohstoffpreise mit Stichtag 29. April 2022. Bei allen anderen herangezogenen Daten, auch den Annahmen zu staatlichen Maßnahmen, wurden in dieser Prognose Informationen bis einschließlich 29. April 2022 berücksichtigt. Den Projektionen liegt die Annahme einer unveränderten Politik zugrunde, es sei denn, es wurden konkrete neue politische Maßnahmen angekündigt.
Die Sommerprognose 2022 wird von der Europäischen Kommission plangemäß im Juli 2022 veröffentlicht.