Rechtsstaatlichkeit und EU-Haushalt: Rat und EU-Parlament erreichen Kompromiss
Durchbruch bei den Verhandlungen über die Rechtsstaatlichkeit zwischen EU-Parlament und Rat: Erstmals wird es bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit sowie demokratische Grundwerte künftig ein Verfahren zur Kürzung von EU-Mitteln geben.
Die Inanspruchnahme von EU-Mitteln wird künftig an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards geknüpft sein – das ist Eckpunkt eines vorläufigen Kompromisses, welchen EU-Parlament und Rat am 5. November 2020 erzielt haben. Durch die Einigung soll der EU-Haushalt im Fall von Verstößen gegen rechtsstaatliche Grundsätze geschützt, die Rechtssicherheit erhöht und die Einhaltung von Grundwerten der Europäischen Union gestärkt werden.
Europaministerin Edtstadler: "Rechtsstaatlichkeit ist unverhandelbar"
Europaministerin Karoline Edtstadler begrüßte die Einigung: "Die EU muss über Mechanismen verfügen, um die Einhaltung ihrer Grundwerte wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte durch alle Mitgliedstaaten sicherzustellen. Dies ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Österreich ist immer dafür eingetreten, dass die Rechtsstaatlichkeit mit dem EU-Budget verzahnt wird."
Die Europaministerin stellte klar, dass unterschiedliche Ansichten unter EU-Mitgliedstaaten zwar normal und zu akzeptieren seien und man auch mit Staaten, die anderer Meinung seien, den Dialog suchen müsse, um Ausgrenzung zu vermeiden. "Doch Rechtsstaatlichkeit ist unverhandelbar. Wenn ein Land vom rechtsstaatlichen Weg abkommt, gibt es künftig eine Verknüpfung zum EU-Budget. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass EU-Gelder nicht ausbezahlt werden."
Auch die Konferenz der "Frugalen", bestehend aus Österreich, Dänemark, Schweden, den Niederlanden und Finnland, am 5. November 2020 begrüßte – neben weiteren Möglichkeiten zur Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, etwa in den Themenbereichen Kampf gegen Terrorismus, COVID-19, Migration, Wettbewerbsfähigkeit, Transparenz und Klimaschutz – die Einigung auf den Mechanismus. "Das ist etwas, was wir als die 4 Frugalen und Finnland erreicht haben. Wir wollen, dass mit dem Geld der Steuerzahler sorgsam umgegangen wird", betonte Europaministerin Karoline Edtstadler nach der Konferenz mit ihren Amtskolleginnen und -kollegen. "Wir können stolz darauf sein. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte sind zentrale Werte dieser Zusammenarbeit."
Wie soll der neue Mechanismus funktionieren?
Die neue Konditionalitätsregelung ist mit dem Mehrjährigen Finanzrahmen 2021 bis 2027 und dem Aufbauinstrument Next Generation EU infolge der COVID-19-Pandemie verknüpft. Ziel ist der Schutz des EU-Haushalts, wenn Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze zu einem Missbrauch von EU-Mitteln führen oder ein ernsthaftes Risiko für derartigen Missbrauch darstellen.
- Die Liste der auslösenden Faktoren ist grundsätzlich offen und erweiterbar. Beispiele könnten entweder Verstöße gegen die Unabhängigkeit der Justiz oder willkürliche und unrechtmäßige Entscheidungen von Behörden sowie die Einschränkung von Rechtsmitteln sein.
- Ist die Europäische Kommission der Ansicht, dass ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze vorliegt, wird sie vorschlagen, den Mechanismus gegen einen der 27 EU-Mitgliedstaaten anzuwenden.
- Der Rat muss die vorgeschlagenen Maßnahmen, wie zum Beispiel die Aussetzung von Zahlungen oder Reduktion von Vorfinanzierungen, innerhalb eines Monats mit qualifizierter Mehrheit – das sind mindestens 15 von 27 Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren – verabschieden, in Ausnahmefällen innerhalb von 3 Monaten. Um die Frist zu wahren, kann die Europäische Kommission dafür eine Sitzung des Rates einberufen.
- Das gesamte Verfahren einschließlich Parteiengehör soll nicht länger als 7 bis 9 Monate dauern.
- Betrachtet sich ein betroffener EU-Mitgliedstaat zu Unrecht EU-Mittelkürzungen ausgesetzt, kann er das Thema auf die Tagesordnung eines Treffens der 27 EU-Staats- und -Regierungsspitzen setzen lassen.
Präventiver Ansatz im Rechtsstaatlichkeitsmechanismus
Die Regelung soll nicht nur dann angewandt werden, wenn EU-Gelder direkt missbraucht werden, etwa bei Korruption oder Betrug. Sie soll zudem bei "systemischen Verstößen" gegen die für alle Mitgliedstaaten geltenden EU-Grundwerte angewandt werden. Zu diesen Grundwerten zählen Freiheit, Demokratie, Gleichheit und die Achtung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte von Minderheiten.
Der neue Mechanismus kann nicht nur dann ausgelöst werden, wenn ein Verstoß nachweislich direkte Auswirkungen auf den EU-Haushalt hat, sondern auch dann, wenn ein ernsthaftes Risiko besteht, dass sich solche negativen Auswirkungen ergeben könnten (präventiver Ansatz). So soll der Mechanismus Situationen verhindern, in denen EU-Mittel Maßnahmen finanzieren, die im Widerspruch zu den Werten der EU stehen.
Endbegünstigte, die von den EU-Mitteln abhängig sind – etwa Studierende, Landwirtinnen und Landwirte – können über eine Web-Plattform Beschwerden bei der Europäischen Kommission einreichen, um die ihnen zustehenden Beträge zu erhalten. So soll verhindert werden, dass die Fördernehmerinnen und -nehmer in den Mitgliedstaaten für Verstöße der nationalen Regierungen "bestraft" werden.
Weitere Schritte
Der vereinbarte Kompromiss muss nun formell vom Europäischen Parlament und dem Ministerrat angenommen werden.
Weitere Informationen
- Konditionalität für den Haushalt: Verhandlungsführer des Ratsvorsitzes und des Parlaments erzielen vorläufige Einigung, Pressemitteilung des Rates der EU, 5. November 2020
- Außenminister Maas: "Wir stärken die Rechtsstaatlichkeit in der EU entscheidend", Pressemitteilung des deutschen EU-Ratsvorsitzes, 5. November 2020
- Rechtsstaatlichkeit und EU-Haushalt: Abgeordnete und Rat erzielen Kompromiss, Pressemitteilung des Europäischen Parlaments, 5. November 2020