Konjunkturprognose Herbst 2020: Erholung der Wirtschaft durch Wiederaufleben der Pandemie unterbrochen
Die Coronavirus-Pandemie verursachte der Wirtschaft in Europa im ersten Halbjahr 2020 einen schweren Schock. Sie erholte sich im dritten Quartal 2020 allerdings durch schrittweise Aufhebung der Eindämmungsmaßnahmen. Das Wiederaufleben der Pandemie führt erneut zu Störungen, da die nationalen Behörden ab September 2020 neue Maßnahmen zur Eindämmung des Virus trafen. Die Wachstumsvorhersagen unterliegen generell einem extrem hohen Maß an Unsicherheit und Risiken.
Hohe Unsicherheiten in den Vorhersagen, ein Einbruch der wirtschaftlichen Erholung bei niedriger Inflation und steigende Staatsschulden – das sind Kernelemente der Herbstprognose, welche die Europäische Kommission am 5. November 2020 für die EU vorgelegt hat. Paolo Gentiloni, EU-Kommissar für Wirtschaft, erklärte zur Prognose: "Nach der tiefsten Rezession in der Geschichte der EU in der ersten Hälfte dieses Jahres und einem sehr starken Aufschwung im Sommer wurde die Erholung Europas aufgrund des Wiederauflebens der COVID-19-Fälle unterbrochen. Das Wachstum wird 2021 zurückkehren, aber es wird 2 Jahre dauern, bis die europäische Wirtschaft wieder fast das Niveau vor der Pandemie erreicht hat. Angesichts der derzeit sehr hohen Unsicherheit muss die nationale Wirtschafts- und Fiskalpolitik weiterhin unterstützend sein, während 'NextGenerationEU' in diesem Jahr abgeschlossen und im ersten Halbjahr 2021 wirksam eingeführt werden muss."
Eine unterbrochene wirtschaftliche Erholung
Die Konjunkturprognose für Herbst 2020 geht davon aus, dass die Wirtschaft des Euroraums 2020 um 7,8 Prozent schrumpfen wird, bevor sie 2021 wieder um 4,2 Prozent und 2022 um 3 Prozent wachsen wird. Die Prognose geht davon aus, dass die Wirtschaft der 27 EU-Mitgliedstaaten 2020 um 7,4 Prozent schrumpfen wird, bevor sie sich mit einem Wachstum von 4,1 Prozent im Jahr 2021 und 3 Prozent im Jahr 2022 erholt. Für Österreich wird heuer ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um 7,1 Prozent prognostiziert. Im Jahr 2021 soll das österreichische Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 4,1 Prozent, im Jahr 2022 um 2,5 Prozent wachsen. Erst Ende 2022 wird die österreichische Wirtschaftsleistung auf das Niveau vor der Coronavirus-Krise zurückkehren.
Im Vergleich zur Wirtschaftsprognose für Sommer 2020 sind die Wachstumsprognosen sowohl für den Euroraum als auch für die EU-27 für 2020 leicht höher und für 2021 niedriger. Die Produktion wird vermutlich weder im Euroraum noch in der EU ihr präpandemisches Niveau bereits im Jahr 2022 wiedererlangen.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie waren in der EU bisher sehr unterschiedlich und das gilt auch in Hinblick auf die wirtschaftlichen Erholungsaussichten. Dies spiegelt die Verbreitung des Virus, die Strenge der Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus, die sektorale Zusammensetzung der Volkswirtschaften (etwa die wirtschaftliche Bedeutung von stark betroffenen Branchen wie Tourismus oder Gastronomie) und die Stärke/Wirksamkeit der nationalen Richtlinien wider.
Begrenzter Anstieg der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Konjunkturrückgang
Der Coronavirus bedingte Verlust von Arbeitsplätzen und der Anstieg der Arbeitslosigkeit haben die Lebensgrundlage vieler Europäerinnen und Europäer stark belastet. Politische Maßnahmen der Mitgliedstaaten sowie Initiativen auf EU-Ebene haben dazu beigetragen, die Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitsmärkte abzufedern. Der Umfang an Maßnahmen, die insbesondere im Rahmen von Kurzarbeitsprogrammen ergriffen wurden, hat dazu geführt, dass der Anstieg der Arbeitslosenquote im Vergleich zum Rückgang der Wirtschaftstätigkeit begrenzt geblieben ist. Die Arbeitslosigkeit wird voraussichtlich 2021 weiter steigen, da die Mitgliedstaaten die Soforthilfemaßnahmen auslaufen lassen und neue Personengruppen in den Arbeitsmarkt eintreten. Die Arbeitslosenquote sollte sich jedoch 2022 verbessern, wenn sich die Wirtschaft weiter erholt.
Die Prognose geht davon aus, dass die Arbeitslosenquote im Euroraum von 7,5 Prozent im Jahr 2019 auf 8,3 Prozent im Jahr 2020 und 9,4 Prozent im Jahr 2021 steigen wird, bevor sie im Jahr 2022 wieder auf 8,9 Prozent sinkt. Die Arbeitslosenquote in den 27 EU-Mitgliedstaaten wird voraussichtlich von 6,7 Prozent im Jahr 2019 auf 7,7 Prozent im Jahr 2020 und 8,6 Prozent im Jahr 2021 steigen, bevor sie im Jahr 2022 auf 8 Prozent zurückgeht. In Österreich dürfte die Arbeitslosenrate heuer 5,5 Prozent erreichen und dann auf 5,1 Prozent (2021) und 4,9 Prozent (2022) zurückgehen.
Defizite und Staatsverschuldung werden steigen
Der Anstieg der Staatsdefizite wird in diesem Jahr voraussichtlich in der gesamten EU erheblich sein, da die Sozialausgaben steigen und die Steuereinnahmen sinken – sowohl aufgrund der politischen Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft als auch aufgrund der Wirkung automatischer Stabilisatoren (diese wirken fiskalisch antizyklisch, ohne dass die Fiskal-Politik aktiv eingreifen muss; das heißt, das "System" reguliert sich teilweise selbst).
Die Prognose geht davon aus, dass das gesamtstaatliche Defizit des Euroraums von 0,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2019 auf rund 8,8 Prozent im Jahr 2020 ansteigen wird, bevor es 2021 auf 6,4 Prozent und 2022 auf 4,7 Prozent sinkt. Dies spiegelt das erwartete Auslaufen der Soforthilfemaßnahmen im Laufe des Jahres 2021 wider, wenn die wirtschaftliche Situation sich verbessert. In Österreich dürfte das Defizit im laufenden Jahr 2020 auf 9,6 Prozent des BIP sinken; für 2021 und 2022 liegen die Werte bei 6,4 beziehungsweise 3,7 Prozent.
Die Prognose geht davon aus, dass die Gesamtverschuldung des Euroraums von 85,9 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf 101,7 Prozent im Jahr 2020, auf 102,3 Prozent im Jahr 2021 und auf 102,6 Prozent im Jahr 2022 steigen wird. Für Österreich liegt der Wert im Jahr 2020 bei 84,2 Prozent (nach dem niedrigsten Wert seit 10 Jahren im Jahr 2019, nämlich bei 70,5 Prozent). Die Verschuldung in Österreich wird 2021 nach dieser Prognose 85,2 Prozent betragen und sich 2022 auf 85,1 Prozent belaufen.
Inflation bleibt niedrig
Ein starker Rückgang der Energiepreise drückte die Gesamtinflation im August und September 2020 in den negativen Bereich. Die Kerninflation, die alle Güter außer Energie und unverarbeitete Lebensmittel umfasst, ging im Sommer 2020 aufgrund der geringeren Nachfrage nach Dienstleistungen, insbesondere touristischen Dienstleistungen und Industriegütern, ebenfalls erheblich zurück. Eine schwache Nachfrage, ein Nachlassen des Arbeitsmarktes und ein starker Euro-Wechselkurs werden die Preise unter Druck setzen.
Die Inflation im Euroraum, gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), wird 2020 voraussichtlich durchschnittlich 0,3 Prozent betragen, bevor sie 2021 auf 1,1 Prozent und 2022 auf 1,3 Prozent steigt, wenn sich die Ölpreise stabilisieren. Für die EU-27 wird eine Inflationsrate von 0,7 Prozent für 2020, 1,3 Prozent für 2021 und 1,5 Prozent für 2022 prognostiziert. Die Inflationsprognose für Österreich liegt für 2020 bei 1,5 Prozent. Sowohl für 2021 als auch für 2022 wird eine Inflation von 1,7 Prozent vorausgesagt.
Ein hohes Maß an Unsicherheit und ein Ausblick mit Abwärtsrisiken
Die Unsicherheiten und Risiken im Zusammenhang mit der Wirtschaftsprognose für Herbst 2020 sind weiterhin außergewöhnlich groß. Das Hauptrisiko ergibt sich aus einer Verschlechterung der Pandemie, die strengere Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit erfordert und zu schwerwiegenderen und länger anhaltenden Auswirkungen auf die Wirtschaft führt. Daher wurde eine Szenario-Analyse für 2 alternative Entwicklungswege der Pandemieentwicklung – einen harmloseren und einen abwärts gerichteten – und ihre jeweiligen wirtschaftlichen Auswirkungen vorgenommen. Es besteht auch das Risiko, dass die Folgen, die die Wirtschaftspandemie hinterlassen hat – wie Insolvenzen, Langzeitarbeitslosigkeit und Versorgungsstörungen – tiefer und weiter reichen als ursprünglich erwartet. Die europäische Wirtschaft könnte auch negativ beeinflusst werden, wenn sich die Weltwirtschaft und der Welthandel weniger als prognostiziert verbessern oder wenn die Handelsspannungen zunehmen würden. Die Möglichkeit von Finanzmarktstress ist ein weiteres Abwärtsrisiko.
Auf der anderen Seite dürfte "NextGenerationEU", das Konjunkturprogramm der EU einschließlich der Fazilität für Erholung und Widerstandsfähigkeit zur Bewältigung der Coronavirus-Pandemie, die EU-Wirtschaft stärker ankurbeln als prognostiziert. Dies liegt daran, dass die Prognose den wahrscheinlichen Nutzen dieser Initiativen nur teilweise berücksichtigen könnte, da die derzeit verfügbaren Informationen zu nationalen Plänen noch begrenzt sind. Ein Handelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich würde sich ab 2021 auch positiv auf die EU-Wirtschaft auswirken, verglichen mit der prognostizierten Handelsbasis zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU auf der Grundlage der Welthandelsorganisation (WTO)-Regeln für Meistbegünstigte (MFN).
Hintergrundinformationen zur Konjunkturprognose
Die Prognose wurde vor dem Hintergrund schwerwiegender Unsicherheiten in Hinblick auf die Coronavirus-Pandemie erstellt. Die Prognose basiert auf den üblichen technischen Annahmen zu Wechselkursen, Zinssätzen und Rohstoffpreisen mit Stichtag 22. Oktober 2020. Bei allen anderen Daten, einschließlich Informationen zur nationalen Regierungspolitik, wurden Informationen bis einschließlich 22. Oktober 2020 berücksichtigt.
Die Prognose hängt von 2 wichtigen technischen Annahmen ab:
- Es wird davon ausgegangen, dass die Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit während des gesamten Prognosezeitraums zu einem gewissen Grad in Kraft bleiben. Nach ihrer deutlichen Verschärfung im vierten Quartal 2020 dürfte sich die Strenge der Maßnahmen im Jahr 2021 jedoch allmählich verringern. Es wird auch davon ausgegangen, dass sich die wirtschaftlichen Auswirkungen bestimmter Beschränkungen im Laufe der Zeit verringern werden, da sich das Gesundheitssystem und die Wirtschaftsbeteiligten an das Coronavirus-Umfeld anpassen.
- Die Prognosen für 2021 und 2022 basieren auf der technischen Annahme, dass die EU und das Vereinigte Königreich ab dem 1. Jänner 2021 nach den Regeln des Meistbegünstigtenprinzip der WTO handeln werden, da die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich noch nicht klar sind. Dies dient nur zu Prognosezwecken und spiegelt weder eine Erwartung noch eine Vorhersage hinsichtlich des Ergebnisses der Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich über ihre künftigen Beziehungen wider.
Die nächste Prognose der Europäischen Kommission wird eine Aktualisierung der BIP- und Inflationsprognosen für den Winter 2021 sein, die voraussichtlich im Februar 2021 vorgelegt wird.
Weitere Informationen
- Pressemitteilung Konjunkturprognose Herbst 2020, Europäische Kommission, 5. November 2020
- Konjunkturprognose Herbst 2020 für Österreich, Europäische Kommission, 5. November 2020 (Englisch)
- Harmonisierte Verbraucherpreisindizes (HVPI), Europäische Kommission, November 2020
- Website der Welthandelsorganisation (Englisch)
- Meistbegünstigtenprinzip, Welthandelsorganisation, November 2020 (Englisch)