Schneller, flexibler und handlungsfähiger: "Strategischer Kompass" als Richtschnur für die künftige Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU

Beim Europäischen Rat am 24. und 25. März 2022 haben die EU-Staats- und -Regierungsspitzen den "Strategischen Kompass" gebilligt. Als neues Grundlagendokument weist er in den kommenden Jahren den Weg für die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Ein Überblick in 5 Fragen und Antworten.

HRVP MOGHERINI IN ZARAGOZA
Foto: Photographer: Eduardo Dieguez, EC - Audiovisual Service

Was ist der "Strategische Kompass"?

Der "Strategische Kompass" beschreibt die gemeinsamen strategischen Ziele der EU und ihrer Mitgliedstaaten in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung bis 2030. Er verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten zudem zu einer Reihe konkreter Ziele für die kommenden 5 bis 10 Jahre. Somit ist der "Strategische Kompass" zugleich ein strategisches Grundlagendokument und ein ambitionierter Aktionsplan. In der "EU-Globalstrategie" (2016) waren die übergeordneten Prioritäten für Sicherheit und Verteidigung bereits formuliert worden – mit dem "Strategischen Kompass" werden diese konkretisiert. So soll er auch dazu beitragen, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union (GSVP) zu stärken.

Warum ist der "Strategische Kompass" wichtig?

Schneller, flexibler, handlungsfähiger: So möchte die EU künftig in Sicherheits- und Verteidigungsfragen agieren, zum Schutze der Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Durch die Entwicklung umsetzbarer strategischer Ziele soll die EU aber auch in ihrem Handeln nach außen an Glaubwürdigkeit gewinnen. Konkret heißt es dazu in dem Dokument: "Das zunehmend feindselige Sicherheitsumfeld erfordert von uns einen Quantensprung nach vorne und die Steigerung unserer Handlungsfähigkeit und -bereitschaft." Dies ist umso wichtiger in einer Zeit, in welcher der Krieg durch die ungerechtfertigte Aggression Russlands gegen die Ukraine nach Europa zurückgekehrt ist und große geopolitische Verschiebungen zu verzeichnen sind. Eine stärkere und fähigere EU im Bereich Sicherheit und Verteidigung soll einen konstruktiven Beitrag zur globalen und transatlantischen Sicherheit leisten.

So betonte auch Josep Borrell, Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, beim Rat "Auswärtige Angelegenheiten" am 21. März 2022: "Die Bedrohungen nehmen zu und die Kosten der Untätigkeit sind klar. Der Strategische Kompass ist ein Leitfaden für unser Handeln. In ihm wird ein ehrgeiziger Weg für unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik für das nächste Jahrzehnt aufgezeigt. Er wird dabei helfen, uns unserer Sicherheitsverantwortung gegenüber unseren Bürgerinnen und Bürgern und der übrigen Welt zu stellen. Wenn nicht jetzt, wann dann?"

Die EU-Mitgliedstaaten verfügen über unterschiedliche strategische Kulturen und auch die Prioritäten und Perspektiven variieren von Land zu Land. Genau das ist die Stärke der EU und erlaubt ihr, einen 360-Grad-Blick auf die Welt zu haben. Zugleich wird der "Strategische Kompass" als neue sicherheitspolitische Grundlage von einer breiten Einigkeit und einem festen politischen Willen zum Handeln getragen.

Welche Maßnahmen umfasst der "Strategische Kompass"?

Der "Strategische Kompass" deckt alle Aspekte der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ab. Er beruht auf 4 Säulen:

  • Handeln ("act"): Um im Krisenfall rasch und entschlossen handeln zu können, plant die EU den Aufbau einer starken "EU-Schnelleingreifkapazität" (Englisch: "EU Rapid Deployment Capacity") von bis zu 5.000 Einsatzkräften – eines der Kernelemente des "Strategischen Kompass". Die "EU-Schnelleingreifkapazität" soll bis 2025 einsatzfähig sein; im ersten Jahr plant Deutschland, die 5.000 Soldatinnen und Soldaten der Truppe zu stellen. Es handelt sich nicht um die Schaffung einer europäischen Armee, sondern um die verbesserte Zusammenarbeit der nationalen Streitkräfte. Sie wird für die Reaktion auf Krisen ausgebildet und ausgerüstet. Neben Bodentruppen sollen je nach Bedarf auch Luft- und Seestreitkräfte zur neuen Truppe gehören. Einsatzszenarien für die "EU-Schnelleingreifkapazität" umfassen beispielsweise das Eingreifen in einen bewaffneten Konflikt, die Evakuierung von Menschen oder das Sichern eines Flughafens. Das bisherige EU-"Battlegroup"-Konzept sieht vor, dass ständig 2 Einheiten mit im Kern jeweils rund 1.500 Soldatinnen und Soldaten bereitgehalten werden, die alle 6 Monate wechselnd von unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden. Mit dem Konzept des "Strategischen Kompass" sollen künftig innerhalb von 30 Tagen 200 vollständig ausgerüstete Expertinnen und Experten für GSVP-Missionen, auch in komplexe Umgebungen, entsandt werden können. Geplant sind zudem regelmäßige praxisbezogene Übungen (sogenannte "LIVEX-Übungen") von nationalen Streitkräften an Land und auf See, die Stärkung der militärischen Mobilität und die Nutzung der "Europäischen Friedensfazilität" in ihrem vollen Umfang, um Partner zu unterstützen.
  • Sichern ("secure"): Um die Fähigkeiten zur Antizipation und Reaktion auf aktuelle, rasch auftretende Bedrohungen zu stärken, soll das Analyseverfahren der EU ausgebaut werden, insbesondere durch die Schaffung von spezialisierten Teams und Instrumentarien gegen hybride Bedrohungen und Cyber-Angriffe ("EU Hybrid Toolbox") sowie ausländische Informationsmanipulation und -einmischung. Bis Jahresende 2022 soll eine überarbeitete EU-Bedrohungsanalyse vorliegen. Ausgebaut werden soll zudem die Rolle der EU als Akteurin im Bereich der maritimen Sicherheit. Zusätzlich ist die Entwicklung einer EU-Weltraumstrategie für Sicherheit und Verteidigung geplant. Die beiden EU-Programme Galileo (Navigationssystem) und Copernicus (Erdbeobachtungsprogramm) sollen besser genützt werden, um GSVP-Missionen und -Operationen zu unterstützen.
  • Investieren ("invest"): Die EU-Mitgliedstaaten haben sich dazu verpflichtet, ihre Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen. Ziel ist die Verringerung der Lücken bei kritischen militärischen und zivilen Fähigkeiten und die Stärkung der technologischen und industriellen Basis der europäischen Verteidigung. Den Mitgliedstaaten sollen Anreize geboten werden, um sich an der gemeinsamen Entwicklung von Fähigkeiten zu beteiligen, insbesondere von sogenannten "strategischen Enablern" und "Fähigkeiten der nächsten Generation" bei Operationen an Land, auf See, in der Luft, im Cyber-Raum und im Weltraum. Um strategische Lücken zu schließen und technologisch-industrielle Abhängigkeiten zu verringern, sollen technologische Innovationen für die Verteidigung finanziell gefördert werden.
  • Mit Partnern zusammenarbeiten ("partner"): Neben der Zusammenarbeit mit strategischen multilateralen Partnern (Verteidigungsbündnis NATO, Vereinte Nationen/UNO) und regionalen Partnern (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa/OSZE, Afrikanische Union/AU, Verband Südostasiatischer Nationen/ASEAN) sollen auch maßgeschneiderte bilaterale Partnerschaften mit gleichgesinnten Staaten und strategischen Partnern wie den Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, Norwegen, dem Vereinigten Königreich, Japan und anderen Ländern entwickelt werden. Maßgeschneiderte Partnerschaften sollen zudem mit Staaten des Westbalkans, der östlichen und südlichen Nachbarschaften sowie mit Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika entstehen. Dies schließt die Stärkung des Dialogs und der Zusammenarbeit sowie die Förderung der Beteiligung an GSVP-Missionen und -Operationen sowie die Unterstützung beim "Capacity-Building" mit ein. Österreich hatte sich in der Entwicklung des "Strategischen Kompass" insbesondere für die verstärkte Zusammenarbeit mit der OSZE und den Staaten des Westbalkans eingesetzt.

Plant die EU, mit dem "Strategischen Kompass" eine europäische Armee zu schaffen?

Nein, jeder EU-Mitgliedstaat behält seine eigene Armee. Es geht darum, enger zusammenzuarbeiten und sich besser zu koordinieren. Dies ermöglicht es, gemeinsam besser auf aktuelle und künftige Bedrohungen zu reagieren. Dabei ist es vor allem wichtig, schnell zu reagieren. Dazu dient die neue "EU-Schnelleingreifkapazität".

Baut die EU doppelte Strukturen zu jenen der NATO auf?

Der "Strategische Kompass" hebt die große Bedeutung der transatlantischen Beziehungen und der Rolle der NATO bei der kollektiven Verteidigung hervor. Eine stärkere und fähigere EU im Bereich Sicherheit und Verteidigung wird dabei einen konstruktiven Beitrag zur globalen und transatlantischen Sicherheit leisten. Sie bildet eine Ergänzung zur NATO; Doppelstrukturen werden nicht geschaffen. Der "Strategische Kompass" soll auch die regelbasierte Weltordnung mit den Vereinten Nationen als Mittelpunkt stärker unterstützen.

Hintergrund: Entstehung des "Strategischen Kompass"

Der "Strategische Kompass" geht auf eine Initiative Deutschlands zurück, die Arbeiten daran wurden während der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 gestartet. Die EU hat zum ersten Mal eine umfassende Bedrohungsanalyse erstellt, welche eine Betrachtung der politischen, wirtschaftlichen, militärischen und komplexen hybriden Bedrohungen und Risiken für die EU beinhaltet. Diese Bedrohungsanalyse wurde von der "Single Intelligence Analysis Capacity" (SIAC) des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) unter Mitwirkung nationaler ziviler und militärischer Nachrichtendienste erarbeitet. Die darauffolgende Erstellung des "Strategischen Kompass" teilte sich in 2 Phasen:

  • Dialogphase (Jänner bis Oktober 2021): In dieser Phase des Strukturierten Strategischen Dialogs diskutierten die 27 EU-Mitgliedstaaten – unter Einbindung der Fach-Community und von Sachverständigen – mit den EU-Organen über konkrete Ziele der EU in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung. Die Debatte widmete sich den 4 Hauptthemen – den sogenannten "Körben" – des "Strategischen Kompass":
    • Krisenmanagement
    • Resilienz
    • Fähigkeiten
    • Partnerschaften
  • Schreibphase (November 2021 bis März 2022): Die Ergebnisse der Dialogphase wurden in der Schreibphase ausformuliert, wobei der EAD die Rolle des Schriftführers einnahm und erste Textentwürfe sowie mehrere Fassungen mit den EU-Mitgliedstaaten abstimmte. Weitere Abstimmungen erfolgten im Rahmen der Gremienarbeit innerhalb der EU. Nach der Annahme im Rat "Auswärtige Angelegenheiten" am 21. März 2022 wurde der "Strategische Kompass" am 24. März 2022 vom Europäischen Rat gebilligt.

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