Bundeskanzler Nehammer: "Der Kompromiss ist das Fundament der Demokratie"
Rede beim Festakt zum Europatag im Parlament
"'Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde die Hoffnung für viele. Und sie ist heute die Notwendigkeit für alle.' Diese Worte, die Konrad Adenauer 1954 in seiner Regierungserklärung gesagt hat, haben heute ebenso viel Gewicht und Bedeutung, wie damals", sagte Bundeskanzler Karl Nehammer in seiner Rede beim Festakt zum Europatag 2024 im Parlament, in der er zunächst an die Geschichte und die Anfänge der Europäischen Union erinnerte und an ein Europa, das nach 1945 in Trümmern lag. Es bräuchte immer mutige politische Entscheidungsträger, die über die Grenzen hinausblicken wie etwa Konrad Adenauer, Charles de Gaulle oder Robert Schuman und das Denkunmögliche umsetzen. So sollten durch die Vergemeinschaftung der kriegswichtigen Ressourcen Kohle und Stahl weitere Kriege innerhalb Europas verhindern werden: "Aus dem Robert Schuman-Plan ist die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl entstanden und aus dieser in weiterer Folge die Europäische Union. Aber der Anlassfall, der Mut zur Entschlossenheit, zu sagen, dass wir die Ressourcen vergemeinschaften, das war die mutige Idee von mutigen politisch Verantwortlichen. Sie haben sich darauf eingelassen, die eigenen Grenzen zu überwinden, um in weiterer Folge ein viel größeres Projekt zu schaffen. Das ist einzigartig, denn die Europäische Union ist ein jahrzehntelanges Friedensprojekt", so der Bundeskanzler. Eine so lange Periode des Friedens habe es innerhalb Europas noch nie gegeben.
Krieg ist nach Europa zurückgekehrt
Man müsse sich jedoch der Realität stellen, dass der Krieg durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nach Europa zurückgekehrt sei. Die EU sei daher gefordert, Haltung zu zeigen und die europäischen Werte zu verteidigen. Die Grundpfeiler dabei seien die Werte Wohlstand, Demokratie und "der Gedanke der Freiheit in ihrer Vielfalt, wie sie die Europäische Union auszeichnet", hielt Nehammer fest. Man müsse sich der Wertediskussion stellen, was Freiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit heiße und was es bedeute, diese Werte nicht nur zu leben, sondern sie auch zu verteidigen, denn: "Wir sind als Demokratie auf der Welt eine Minderheit", so der Bundeskanzler.
"Besser gemeinsam als einsam"
Karl Nehammer erinnerte in seiner Rede auch an den erfolgreichen Abschluss der EU-Beitrittsverhandlungen vor 30 Jahren als einen der wichtigsten Momente in der österreichischen Geschichte. Obwohl es nicht wenige gegeben hätte, die Angst vor der Veränderung hatten, habe sich gezeigt, dass die Vorteile überwältigend seien: "Sie lassen sich monetär und faktisch festhalten: 1,2 Millionen Arbeitsplätze sind dazugekommen, jeder zweite Arbeitsplatz in Österreich hängt an der Exportwirtschaft. Ein gemeinsamer Markt ermöglicht den Export und Verhandlungen mit den großen und mächtigen Konkurrenten auf der Welt", hielt Karl Nehammer fest. Die Wertegemeinschaft ermögliche es auch, dass man Probleme gemeinsam diskutiert und löst. Durch die Krisen und vielfältigen Herausforderungen der letzten Jahre gebe es nun eine neue Atmosphäre der Zusammenarbeit, in der durch Allianzen Kompromisse geschlossen würden.
Kompromiss nicht Schwäche, sondern Stärke der Demokratie
Den 27 Mitgliedstaaten mit völlig verschiedenen Zugängen zu Herausforderungen und anderen Erfahrungen gelinge es im Diskurs immer wieder, Verschiedenes zusammenzuführen und einen Kompromiss zu suchen: "Der Kompromiss ist das Fundament der Demokratie. Es ist uns verloren gegangen, das zu betonen: nicht als Schwäche, sondern als Stärke des Diskurses. Das ist so wichtig und das muss man erklären: Demokratie heißt immer, aufeinander zuzugehen. Demokratie heißt immer, ein Stück weit von seinen eigenen Ansprüchen zurückzutreten und die des anderen anzunehmen", betonte der Kanzler. Die Aufgabe der Regierungschefs in den EU-Gremien sei das Ringen um die besseren Ideen und stets den Ansatz zu verfolgen, wie man die EU verbessern könne. 2024 sei ein besonderes Jahr, weil alle die Chance hätten, bei der Europawahl wieder ihre Stimme über die künftige Richtung der EU abzugeben.
Herausforderungen über die Zukunft der EU
Um die Zukunft zu sichern, die Union weiterzuentwickeln und etwas zu bewegen, müssten Herausforderungen angegangen werden. Der Bundeskanzler nannte hier in erster Linie das Thema Migration mit den Bereichen Außengrenzschutz, schnellere Asylverfahren und Rückkehrmöglichkeiten für jene, die nicht bleiben können sowie Abkommen mit Drittstaaten, die wichtig seien, um Druck von den Außengrenzen zu nehmen.
Auch das Thema Sicherheit stehe auf der Agenda ganz oben: "Es geht um den Kampf gegen den Terror sowie um den Kampf gegen organisierte Kriminalität und Menschenhandel. Dazu kommt das Phänomen der irregulären Migration, das die Systeme überlastet, die Stimmung in Europa kippen lässt und den Glauben an die Einheit Europas in die Minderheit bringen kann. Das Thema ist mehr als wichtig. Umso wichtiger ist es, dass wir hier Prioritäten setzen", so Bundeskanzler Nehammer.
Europäisches Selbstverständnis überdenken
Es brauche in Europa aber auch ein Umdenken über das eigene Selbstverständnis. "Wir neigen in Europa aufgrund unserer langen Geschichte dazu, uns für sehr überlegen zu empfinden. Das ist eine Einstellung und Haltung, die höchst bedenklich ist, wenn man an den Umgang der anderen großen Partner in der Welt denkt", so der Kanzler, der gleichzeitig an bevölkerungs- und wirtschaftsstarke Länder wie Indien oder China erinnerte.
Man müsse lernen, dass man mit den eigenen Haltungen nicht die Welt überzeugen könne und Verbündete suchen. Über den Weg des Dialogs und der Kooperation könnten dann neue Wege der Zusammenarbeit beschritten werden. Denn die Welt sei oft wettbewerbsfähiger und dynamischer als Europa, hier müsste man reagieren und die Konkurrenzfähigkeit erhöhen. "Wir haben momentan das Phänomen, dass wir in vielen Bereichen überreguliert sind. Wir brauchen die Freiheit in Forschung und bei Innovationen, damit wir den Anschluss an jene nicht verlieren, die nicht zögern, uns wirtschaft- und standortpolitisch zu überholen", so Nehammer. Die Europäische Union sei eine der wohlhabendsten Regionen der Welt. Dies könne aber nur durch Leistung und Arbeit bewahrt werden und indem man die Produkte, die man herstelle, auch verkaufen könne.
Das seien große Herausforderungen, denen man sich stellen müsse. Auch die geplante Erweiterung der Union um den Westbalkan oder eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zähle dazu. Aber es brauche ein klares Signal von der EU-Kommission und des EU-Parlaments. Daher sei die Europawahl so wichtig. "Jede Stimme zählt. Am 9. Juni ist Ihre Chance bei der Europawahl abzustimmen. Bitte gehen Sie hin", so Nehammer abschließend.
Bilder von diesem Termin sind über das Fotoservice des Bundeskanzleramts kostenfrei abrufbar.