Welche Erscheinungsformen von Antisemitismus gibt es?

Antisemitismus besteht in verschiedensten Ausprägungen seit der Antike, entwickelt sich aber auch stetig weiter. In der Antisemitismusforschung wird beispielsweise zwischen folgenden Erscheinungsformen von Antisemitismus unterschieden:

Antijudaismus

Antijudaismus ist eine Form von Antisemitismus, unter der man eine religiös begründete Judenfeindschaft versteht. Er umfasst die Herabsetzung, Entrechtung, Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden aufgrund ihrer Religion. Zwar existiert Antijudaismus bereits länger als das Christentum, dennoch wurde gerade die hetzerische und antijudaistische Propaganda der Kirche in der römischen Antike und im Mittelalter maßgeblicher Treiber für die Verbreitung von Judenhass und Element staatlicher Repression. 

So wurde Jüdinnen und Juden etwa die Schuld am Tod Jesu (Christusmord) gegeben und ihnen Christenfeindlichkeit unterstellt. Daneben zählen auch der Vorwurf des Hostienfrevels oder die Ritualmordlegende zu den verbreiteten antijüdischen Stereotypen. Auch die sogenannte "Sündenbocktheorie" hat ihren Ursprung im religiösen Antijudaismus, nach der Jüdinnen und Juden für jegliche Missstände, wie etwa den Ausbruch der Pest, verantwortlich gemacht wurden.

Antijudaismus ist jedoch nicht auf das Christentum beschränkt, sondern findet sich auch im Islam. Im Koran sind einige Stellen enthalten, die Jüdinnen und Juden etwa als betrügerisch und unbelehrbar darstellen. Gleichwohl konnten Jüdinnen und Juden als Schutzbefohlene über Jahrhunderte ein relativ sicheres Leben in islamisch geprägten Ländern führen.

Modernere Formen des Antisemitismus knüpfen zum Teil immer noch an antijudaistische Erzählungen an, die auch in modernen Verschwörungserzählungen laufend aktualisiert werden.

Moderner Antisemitismus

Rassistischer Antisemitismus

Im Kontext der rechtlichen Gleichberechtigung von Jüdinnen und Juden im 19. Jahrhundert wandelte sich der traditionelle, religiös geprägte Judenhass zunehmend zu einer rassistisch begründeten Judenfeindschaft. 

Unter Bezugnahme auf die pseudowissenschaftliche und biologisch argumentierte "Rassentheorie" wurde die sogenannte "Judenfrage" als "Rassenproblem" dargestellt, wonach Jüdinnen und Juden als andersartig, der Gesellschaft nicht zugehörig und nichtintegrierbar, angesehen werden.

Dabei wurden auch antijudaistische Erzählungen aufgegriffen und aktualisiert: Jüdinnen und Juden wurden als Sündenbock für gesellschaftliche Krisen und als "raffgierig" präsentiert, die sich unrechtmäßig auf Kosten "der Anderen" bereichern wollen. 

Im Nationalsozialismus wurde diese Form des Judenhasses zunehmend radikalisiert und gipfelte in der Ermordung von über 6 Millionen Jüdinnen und Juden aus ganz Europa. 

Das Ende des Nationalsozialismus bedeutete keineswegs auch ein Ende des Judenhasses. Verbunden mit anderen Formen von Antisemitismus manifestiert sich Antisemitismus bis heute in Formen der Ablehnung von Jüdinnen und Juden beziehungsweise jüdischer Einrichtungen. Diese äußern sich, teilweise gepaart mit Antikapitalismus, Globalisierungskritik oder Antiamerikanismus, etwa in der Wahnvorstellung von jüdischer Weltmacht beziehungsweise einer globalen jüdischen Weltverschwörung. 

Sekundärer Antisemitismus

Beim sekundären Antisemitismus wird eine besondere Abwehrhaltung gegenüber der schuldbelasteten Vergangenheit der nationalsozialistischen Judenverfolgung eingenommen. Diese Form des Antisemitismus wird daher auch Schuldabwehr-Antisemitismus oder Post-Shoah-Antisemitismus genannt.

Die Gründe dafür sind vielfältig, darunter: ein Desinteresse, eine Externalisierung (andere waren und sind verantwortlich), der Verweis auf den angeblichen gesellschaftlichen anti-antisemitischen Konsens, eine moralische Überforderung und emotionale Belastung oder eine Opfer- beziehungsweise Erinnerungskonkurrenz. 

Sekundärer Antisemitismus äußert sich unter anderem auch in der Verharmlosung, Relativierung oder Leugnung des Holocaust. Damit einhergehend kommt es etwa zu einer Täter-Opfer-Umkehr, indem die antisemitische Erzählung, Jüdinnen und Juden hätten Schuld beziehungsweise eine Mitschuld am Judenhass, forterzählt wird.

Israelbezogener Antisemitismus

Von israelbezogenem Antisemitismus ist die Rede, wenn antisemitische Vorurteile auf den Staat Israel übertragen werden – das heißt, wenn Kritik an der Politik des Staates Israel mit antisemitischen Vorurteilen verknüpft wird. 

Israelbezogener Antisemitismus ist insbesondere deswegen so gefährlich, weil mit ihm antisemitische Erklärungsversuche verbreitet werden, die nicht sofort als solche zu erkennen sind. Darüber hinaus ist diese Form des Antisemitismus in verschiedenen (ideologischen) Milieus zu beobachten. 

Israelbezogener Antisemitismus muss von legitimer Kritik an der Politik des Staates Israel unterschieden werden. Denn natürlich ist nicht jede Kritik an Israel automatisch antisemitisch. Hilfreich beim Erkennen von israelbezogenem Antisemitismus kann der sogenannte 3-D-Test für Antisemitismus sein: Wird Israel dämonisiert, delegitimiert oder mit doppelten Standards betrachtet?

Das erste D steht für Dämonisierung. Darunter fallen beispielsweise Vergleiche von israelischer Politik mit den Verbrechen der Nationalsozialisten, etwa wenn palästinensische Flüchtlingslager mit Auschwitz oder Gaza mit dem Warschauer Ghetto gleichgesetzt werden. Auch Parolen wie "Kindermörder Israel" dämonisieren und aktualisieren die antisemitische Ritualmordlegende, deren Ursprung im Mittelalter liegt. 

Das zweite D steht für Doppelstandards. Diese liegen vor, wenn Israel anders als andere demokratische Staaten behandelt und bewertet wird, etwa wenn eine ähnliche Politik anderer Staaten nicht genauso scharf kritisiert wird wie die Israels. Ein Beispiel hierfür ist der Aufruf zum Boykott israelischer Waren, während bezogen auf Waren aus anderen Ländern, in denen es regelmäßig zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen kommt, kein solcher Boykottaufruf stattfindet.

Das dritte D steht für Delegitimierung. Das ist der Fall, wenn Israel sein Existenzrecht abgesprochen wird. Dies geschieht etwa bei der Parole "From the river to the sea, (…Palestine will be free)" vor, mit der die Errichtung eines palästinensischen Staates vom Jordan bis zum Mittelmeer und damit effektiv das Auslöschen Israels von der Landkarte gefordert wird.

Es ist nicht immer leicht, Kritik an Israel von israelbezogenem Antisemitismus zu unterscheiden. Eine Hilfestellung kann auch die Broschüre "Man wird ja wohl noch Israel kritisieren dürfen…?"  der deutschen Amadeu Antonio Stiftung bieten:

Broschüre "Man wird ja wohl noch Israel kritisieren dürfen…?" (PDF)

Was ist BDS?

BDS ist die Abkürzung für "Boykott, Desinvestionen und Sanktionen". Sie steht immer wieder im Zentrum von Debatten um Antisemitismus. Bei BDS handelt es sich um eine internationale Kampagne ohne feste Organisation, die seit zirka 2005 unter dem Vorwand, für die Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung einzutreten, gegen Jüdinnen und Juden beziehungsweise Israel agiert. BDS fordert einen Boykott israelischer Waren sowie Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel. BDS übt nicht selten Druck beispielsweise auf Künstlerinnen und Künstler aus Israel aus, um diese von Veranstaltungen auszuschließen.

Mit Entschließung des Nationalrates vom 27. Februar 2020 betreffend der Verurteilung von Antisemitismus und der BDS-Bewegung forderte der Nationalrat die Bundesregierung unter anderem dazu auf, Organisationen und Vereine, die sich antisemitisch äußern oder das Existenzrecht Israels in Frage stellen, keine Räumlichkeiten und Infrastruktur zur Verfügung zu stellen sowie Veranstaltungen der BDS-Bewegung oder von Gruppen, die deren Ziele verfolgen, weder finanziell noch in anderer Form zu fördern.

Entschließung des Nationalrates vom 27. Februar 2020

Islamischer Antisemitismus

Antisemitismus hat nicht nur in Europa, sondern auch in muslimisch geprägten Gesellschaften eine lange Tradition. Gerade auch im Rahmen des Nahostkonfliktes und der Mobilisierung von Sympathisanten wird an diese Tradition angeknüpft und vertraute Stereotype werden zu politischen Zwecken instrumentalisiert.

Beim islamischen Antisemitismus verschmelzen antisemitische Vorstellungen aus zwei Quellen, die sich jedoch deutlich voneinander unterscheiden: dem islamischen Antijudaismus des 7. und 8. Jahrhunderts sowie aus antisemitischen Verschwörungstheorien mit europäischem Ursprung. 

Im islamischen Antisemitismus werden dabei die negativsten Judenbilder aus Christentum und Islam vereint. Hier werden die muslimischen Überlieferungen von jüdischer Schwäche und Feigheit mit der paranoiden Vorstellung vom "Juden" als dem heimlichen Herrscher der Welt verbunden und somit das 7. mit dem 20. Jahrhundert verknüpft.