Julius Neumark

Porträt Julius Neumark
Foto: BKA/Dragan Tatic
Meine Angehörigen – meine Cousinen und deren Kinder – wissen, dass es einen Platz gibt, wo sie ihren Großvater oder Urgroßvater besuchen können.

Das Gespräch mit Julius Neumark wurde am 3. März 2022 in Wien geführt.

Julius Neumark war ein Baby, als seine Eltern ihn zu seinem Schutz aus dem Arbeitsghetto in Litauen schmuggelten, um sein Leben zu retten. Nach dem Krieg wurden sie wieder vereint und gingen gemeinsam nach Wien zurück. Der Großvater überlebte nicht, der Name von Hersch Neumann findet sich auf der Namensmauern Gedenkstätte. Er ist nicht vergessen.

Mein Großvater mütterlicherseits ist in Bursztyn, Galizien, geboren. Seine Muttersprache war Deutsch. Als 20-Jähriger ist er mit seiner Mutter nach Wien gegangen. Seine Mutter, also meine Urgroßmutter, ist 1901 gestorben und am ersten Tor des Zentralfriedhofs begraben. Sie wurde nur 41 Jahre alt und mein Großvater war zu dieser Zeit 21 Jahre alt. Mit seiner ersten Ehefrau hatte er ein Kind – mein Onkel Siegfried ist 1906 auf die Welt gekommen –, sie ist leider kurz darauf gestorben. Siegfried ist bereits 1933 nach Israel gegangen. Daher hat er den Krieg überlebt und ich durfte ihn danach kennenlernen. Mein Großvater heiratete erneut. Meine Großmutter, Sophie Walik, war aus ­Galizien. Nach der Heirat holte er sie nach Wien. Meine Großmutter war die älteste Tochter von 16 Kindern des Gutsverwalters eines Fürsten. Sie hatten gemeinsam drei Töchter, die älteste Tochter war meine Mutter. Mein Großvater hatte in Wien einen Textilgroß­handel für Arbeitskleidung am ­Morzinplatz 1 im 1. Bezirk. Dieser wurde arisiert.

1934 ist mein Großvater in eine große Wohnung in der Hörlgasse 11 übersiedelt, dort, wo jetzt auch ein Stolperstein verlegt wurde. Diese Wohnung wurde 1938 arisiert und er ist auf der Straße gelandet. ­­Eichmann hat zuerst nicht gemordet, sondern hat dafür gesorgt, dass die Leute auswandern. Die jüngste Tochter meines Großvaters, meine Tante Eva, hat ein Affidavit bekommen. Es war wahrscheinlich von einem Cousin meines Großvaters, der in New York gelebt hat. Sie ist etwa 1939 ausgewandert. Mein Großvater hat das für sich und seine Frau ebenfalls eingereicht, sie wurden aber aufgrund ihres Alters nicht akzeptiert. Sie hatten jedoch zum Glück zwei Schwiegersöhne, die Litauer waren, unter ihnen mein Vater Philipp Neumark. Mein Vater stammte aus einer wohlhabenden Familie, er hat – sogar sehr flott – in Wien studiert. In der jüdischen Studentenschaft hat er meine Mutter kennengelernt und später geheiratet. Sie haben es ermöglicht, dass meine Großeltern ein Visum bekommen haben und nach Litauen auswandern konnten. Er hat weiterhin mit seiner Tochter in Amerika korrespondiert. Diese Tante, die Tante Eva, hat alle Briefe, die sie von ihren Eltern aus Wien und aus Litauen bekommen hat, aufgehoben. Als Tante Eva gestorben ist, hat meine Cousine alles nach Israel mitgenommen. Als ich sie besucht habe, hat sie mir die Briefe gezeigt. Ich habe jenen Brief herausgesucht, in dem mein Großvater berichtet, dass er einen Enkel bekommen hat und dieser Enkel war ich. Da hat er beschrieben, was für ein süßes Kind ich war. Ich habe die ganzen Briefe übersetzt. Ich habe sogar noch ein Bild, auf dessen Rückseite steht "April 1941", das ist also drei Monate, bevor die ­Deutschen in Litauen einmarschiert sind. Auf dem Bild ist die ganze Familie zu sehen. Überlebt haben meine Eltern, meine Großmutter mütterlicherseits und ich. Die anderen zwei sind ermordet worden, also mein ­Großvater und meine Großmutter ­väterlicherseits, die Litauerin war. Am 27. März 1944 wurden sie ab­geholt und sind seitdem verschwunden. Der Tag, der bestimmt hat, dass ich überleben sollte, das war der 27. Oktober 1941.

Porträtfotos der Großeltern von Julius Neumark
Porträtfotos der Großeltern. Foto: Julius Neumark, privat
Die Familie von Julius Neumark in Kaunas im März 1941
Die Familie von Julius Neumark in Kaunas im März 1941: von rechts stehend: Gisela und Philipp Neumark (Julius' Eltern). Rechts sitzend: Pauline Neumark, Philipps Mutter, sie wurde 1941 ermordet; von links sitzend: Sesil, Giselas Mutter; hinter ihr stehend: Giselas Vater Hersch (Hermann Zwi) Neumann, er wurde 1944 ermordet. Foto: Julius Neumark, privat
Brief von Julius' Großeltern an ihre Tochter Eva
Brief von Julius' Großeltern an ihre Tochter Eva. Sie hat alle Briefe ihrer Eltern aus Wien und Litauen aufgehoben. Julius hat jenen Brief herausgesucht, in dem sein Großvater berichtete, dass er einen Enkel bekommen hat – und dieser Enkel war Julius. Foto: BKA/Dragan Tatic
Julius Neumark in den Jahren 1944 und 1945
Julius in den Jahren 1944 und 1945. Foto: Julius Neumark, privat
Aus dem Familienalbum des Vaters, Philipp Neumark
Aus dem Familienalbum des Vaters, Philipp Neumark. Foto: Julius Neumark, privat
Aus dem Familienalbum der Mutter, Gisela (Gittel) Neumark
Aus dem Familienalbum der Mutter, Gisela (Gittel) Neumark. Foto: Julius Neumark, privat

Am 15. August wurden 30.000 Juden in das ummauerte Ghetto Kaunas (Kowno) hineingestopft. Meine Eltern, meine Großeltern und ich sind mit einer zweiten Familie in einem einzigen Zimmer gewesen. Das Ghetto war primär ein sogenanntes Arbeitsghetto. Nur die, die gearbeitet haben, haben ein bisschen zu essen bekommen. Knapp nachdem das Ghetto eröffnet wurde, wurden Akademiker gesucht, die in den Archiven helfen, genauso wie die Arbeiter in den Fabriken arbeiteten. Und es haben sich leider – und zum Glück nicht mein Vater, weil er als Wirtschaftler nichts in einem Archiv zu suchen hatte – etwas über 500 Akademiker gemeldet. Die wurden am selben Tag erschossen. Alle. Die Idee dahinter war, einen möglichen Widerstand durch die Akademiker zu verhindern.

Daraufhin gab es weitere solche "Aktionen". Alle Leute, die jünger als zwölf Jahre waren und älter als 55 Jahre, mussten liquidiert werden, die sogenannten "unnützen Esser". Dieser Tag war der 27. Oktober, als dann etwas über 4.700 Kinder dort abgeholt und umgebracht wurden. Ich war jünger als zwölf, aber ich habe das überlebt, weil meine Mutter mich nach ihren Angaben in einer Klomuschel versteckt hat. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Ich will es nicht wahrhaben, aber so erzählte sie mir das. Die Ghettos waren so ähnlich wie in Warschau. Da waren die Nazis nicht drinnen, die waren draußen. Denn es hat einen Judenrat gegeben, es hat eine Judenpolizei gegeben, sogar einen Judenrichter. Ihnen oblag die innere Verwaltung, aber natürlich unter Zwang: Sie mussten immer Juden zur Verfügung stellen.

Es soll bis Jänner 1942 solche Aktionen gegeben haben. Jedenfalls gibt es Zahlen, die belegen, dass im Jänner 1942 statt 30.000 nur mehr 15.000 Juden im Ghetto waren. Es hat dazwischen kleinere Aktionen gegeben. Zum Beispiel hat es ein jüdisches Spital gegeben, in das sie eines Tages gekommen sind und gemeint haben, hier könne eine Seuche ausbrechen. Es wurde ein Feuer gelegt und alle Patienten, Ärzte, Krankenschwestern im Spital sind dort verbrannt worden. Auch hat es einen Mann gegeben, der mit einer Pistole auf einen Deutschen geschossen hat, aber daneben. Der wurde dann aufgehängt.

Die übrigen 15.000 haben bis Ende 1943 eine ­qualvolle Zeit gehabt. Die Leute haben gearbeitet und geschuftet und sind eines natürlichen Todes ge­storben. Mein Vater hat innerhalb des Judenrates ­gearbeitet. Meine Mutter hat am Flugplatz gearbeitet, weil sie gut Deutsch konnte.

Als ich in Kaunas war, habe ich ein Bild gefunden. Da gibt es ein Museum im Neunten Fort, wo die Leute umgebracht wurden. Da gibt es auch eine Gedenktafel, dass dort über 30.000 Leute, darunter auch Ausländer, hingebracht und ermordet wurden, es war ein Ort des Todes. Und dort sah ich auf der Wand eingerahmt einen schon schwer leserlichen Zettel. Darauf sind die Kontaktpersonen für die Nazis auf­gelistet. Und dieser Zettel wurde bei der SS gefunden. Die Nummer 18 ist mein Vater. Er hat sich litauisch genannt, um keinen deutschen Namen zu haben. Es steht auch sein Geburtsjahr 1910 darauf. Ich habe dort so vieles erfahren, von dem ich keine Ahnung gehabt hatte.

Julius' Vater Philipp im Ghetto
Julius' Vater Philipp im Ghetto. Foto: Julius Neumark, privat

Das Ghetto war mehr oder weniger von Juden verwaltet. Die Nazis sind höchstens reingekommen, um Befehle zu geben oder um Leute abzuholen. Es waren die Deutschen, sie haben gar nicht viel Personal gehabt. Sie haben sehr viele Litauer als Kollaborateure gehabt. Es hat gar nicht so viele Deutsche gegeben, weil die haben sie an der Front gebraucht. Und daraufhin haben der Judenrat und die Widerstandskämpfer damals beschlossen: Die kleinen Kinder sollen hinausgeschmuggelt werden. Es hat eine Hebamme gegeben, die die Babys und Kleinkinder mit Barbiturat in Schlaf versetzt hat. Sie wurden dann ­irgendwie aus dem Ghetto gebracht. Durch den Untergrund und durch die Mithilfe eines Bischofs, der sich angeboten hat, zu helfen. Er hat Unterkünfte für ­folgende Kinder gesucht: Sie sollten keine Buben sein, und nicht älter als 2 bis 3 Jahre, weil dann haben die Kinder Jiddisch gesprochen. Es waren hauptsächlich Babys, die gerettet wurden. Mein Glück war, dass mich ein älteres Ehepaar genommen hat, die mich sowieso verstecken mussten, weil sie keine Kinder hatten. Die meisten sind zu Familien gekommen, die schon 3, 4, 5 Kinder hatten. Die Mädchen wurden in ein Nonnenkloster aufgenommen. Woher ich das weiß? Ich bin Mitglied der "Hidden Children" und habe bei einem Treffen der "Hidden Children" in Amsterdam eine junge Frau kennengelernt, die auch als Baby gerettet wurde, weil sie hinausgeschmuggelt wurde. Wir haben uns inzwischen angefreundet, sie lebt in Australien. Sie hat mir auch das mit dem Barbiturat erzählt. Von der Mutter weiß ich nur, dass das mein Vater mit mir gemacht hat, weil sie zu dem Zeitpunkt am Flugplatz arbeiten war. Sie kam nach Hause und wollte zu ihrem Kind und das Kind war weg. Und sie sagte, sie hat meinen Papa geprügelt und geschlagen, weil er ihr das Kind weggenommen hat. Sie weiß jedenfalls nicht, wie er mich rausgebracht hat. Sie haben es geschafft, sie sind zum Zaun, sie haben geschaut, dass die Wache gerade Zigaretten raucht oder so etwas Ähnliches, so wurde ich gerettet. Auf der anderen Seite wurde ich von diesem alten Ehepaar abgeholt. Sie haben eine Wohnung im Dachgeschoss einer Holzvilla gehabt. Sie haben mich dort am Dachboden versteckt. Ich war zwei Jahre lang dort. Wenn niemand da war, durfte ich raus und bin in der Wohnung gewesen. Aber immer, wenn es geläutet hat, habe ich mich am Dachboden versteckt. Eine Henne und eine Katze waren meine Lebensgefährten. Das habe ich in Erinnerung. Die Henne habe ich sehr geliebt, denn sie hat fast jeden Tag ein Ei gelegt und meine Zieheltern, ich habe sie Mama und Papa genannt, haben es gekocht und ich durfte es essen. Ich war da immerhin schon vier Jahre alt. Ich habe mir zuerst gedacht, ich kann mich an das Haus nicht erinnern. Als ich es aber vor 8 oder 10 Jahren betreten habe, habe ich sagen können, was wo ist. Es hat in der Wand, ungefähr einen Meter hinter der Tür, ein Loch gegeben, durch das ich mich in das Versteck begeben habe. Das Loch existiert heute noch. Dort drinnen ist noch immer eine Liegestatt, ich habe die jetzigen Bewohner gefragt, ob sie das reingelegt haben. Sie meinten, das war schon immer so, für sie ist das jetzt eine Abstellkammer.

Julius' Zieheltern während des Krieges: Elena und Jonas Beliajevas
Julius' Zieheltern während des Krieges: Elena und Jonas Beliajevas. Foto: Julius Neumark, privat

Eine armselige, winzige, niedrige Wohnung. Ich erinnere mich aber, dass ich sie als Kind irrsinnig groß und hoch fand. Ja, ich war halt ein Baby. Mein Ziehvater, der alte Herr, der mein Großvater hätte sein können, ist Tierarzt gewesen und ist natürlich immer in die Arbeit gegangen und wenn er heimgekommen ist, hat er mich immer in den Arm genommen. Er hat mir immer von hinter dem Ohr ein Zuckerl gegeben. Ich muss sagen, es war irrsinniges Glück, wenn ich im Vergleich dazu die Geschichte von anderen Kindern lese. Ich habe wirklich irrsinnig liebevolle Zieheltern gehabt, die sich wirklich um mich gekümmert haben. Als ich befreit worden bin, wurde von mir das erste Foto gemacht. Niemand glaubte, dass ich ein ­Ghettokind bin, ich sah sehr wohlgenährt aus. Das einzige ist, dass ich natürlich alleine war, dass ich auf einem Dachboden gelebt, aber nicht gelitten habe. Was mir nach der Befreiung schwergefallen ist, war das Gehen in Schuhen. Meine Zieheltern wollten nach der Befreiung mit mir hinaus und auf der Straße spazieren gehen. Ich musste es erst lernen, weil ich davor nie Schuhe gebraucht und getragen habe, da ich die Wohnung nie verlassen habe.

Meine Eltern wussten, wo ich war. Deswegen habe ich auch so viele Dokumente, weil mein Vater diesen Leuten Dokumente gegeben hat. Damit man weiß, wer ich bin.

Das Haus von Elena und Jonas Beliajevas, Aukštaičių g. 15, Kaunas
Das Haus von Elena und Jonas Beliajevas, Aukštaičių g. 15, Kaunas. Foto: Julius Neumark, privat

Die Russen haben jedenfalls in Litauen ein Wirtschaftskommissariat eingerichtet, mein Vater war ja Wirtschaftsfachmann und wurde daher sofort angestellt. Er hat weiterhin Kontakt mit anderen Ghetto-Bewohnern gehabt, die überlebt hatten. Durch die Kontakte hat er erfahren, dass ehemalige Mitglieder des Betar – einer zionistischen Jugendorganisation – als "jüdische Faschisten" verhaftet und nach Sibirien geschickt werden. Er hat sich gedacht: "Wir müssen weg." Es gab eine Möglichkeit für meine Mutter, da sie österreichische Staatsbürgerin war. Sie reichte daraufhin die Papiere ein, dass sie nach Österreich zurück möchte, wohl in der Hoffnung, dort auch Familienmitglieder anzutreffen. Das Rote Kreuz ermöglichte ihr die Rückreise mit einem ihrer Lastwagen. Das Problem war mein Papa. Deshalb hat er sich falsche Papiere auf den Namen eines Cousins meiner Mutter machen lassen. Doch das Problem war: Was macht er mit dem Ministerium, wo er arbeitete, noch dazu in einer hohen Position? Denen konnte er nicht sagen, dass er mit falschen Papieren nach Österreich gehen möchte. Also ging er an dem Tag, an dem die Lastwagen abfahren sollten, wie immer in die Arbeit, mit Sakko und Aktentasche, eine oder eineinhalb Stunden, bevor die Lastwagen abgefahren sind. Meine Mutter hat gezittert: Kommt er oder kommt er nicht? Eine Stunde vor der Abfahrt meinte er, er hätte etwas zuhause vergessen und komme wieder, hat sogar sein Sakko hängen gelassen, weil es "eh warm draußen ist". Er ist abgehauen und nie mehr wieder zurückgekehrt. So sind wir weg aus Litauen. Doch die Reise dauerte sehr lang, wir waren ein Jahr unterwegs, bis wir im September 1946 in Wien am Nordbahnhof angekommen sind. Mein Papa hat überall, wo wir einen längeren Aufenthalt hatten, versucht zu arbeiten und Geld zu verdienen.

Ich muss sagen, ich kenne meinen Vater so nicht. Ich kenne ihn ganz anders. Für mich ist er ein Wirtschaftsfachmann, ein gemütlicher Mann. Ich habe ihn zuhause als immer etwas faul empfunden. Da hat alles die Mama gemacht. Er ist jeden Tag nach Hause gekommen und hat Zeitung gelesen, sonst nichts. Dann erfahre ich, nachdem er gestorben ist, wie entsetzlich aktiv er gewesen sein muss, als er jung war.

Am Nordbahnhof angekommen, beschloss Mutti: Sie will in die Wohnung des Großvaters in der Hörlgasse zurück. Sie hat mich mitgenommen, an das kann ich mich wahnsinnig gut erinnern. Meine Mutti war so nervös, dass auch ich Angst gehabt habe. Sie ist zum Hausbesorger gegangen, der sie erkannt hat, sie hat ja dort als Mädchen gewohnt. Gemeinsam gingen sie zur Wohnungstür, diese wurde ihr von einer kleinen alten Frau geöffnet. Das Erste, was diese kleine alte Frau zu meiner Mutter sagte, war: "Fräulein Neumann, Sie leben noch?" Meine Mutti hat gesagt: "Wissen Sie, ich will Sie ja nicht da rausschmeißen, aber Sie haben ja so eine riesige Wohnung. Wir möchten zwei Zimmer haben." Daraufhin hat diese Dame gesagt: "Tut mir leid, ich habe kein Anrecht auf diese Wohnung, ich wohne im Dienstmädchen-Zimmer. Diese Wohnung haben amerikanische Offiziere übernommen." Die amerikanische ­Besatzungsmacht hat ja das Hotel Regina übernommen, zwei Minuten von der Wohnung entfernt. Die haben einfach die arisierten Wohnungen gesehen und gesagt, die übernehmen wir. Sie haben nur diese alte Dame nicht rausgeschmissen. Meine Mutter war mutig genug und ist daraufhin ins Wohnungsamt gegangen und hat dort gesagt: "Ich kann die arisierte Wohnung nicht bekommen. Ich will nicht im Rothschild-Spital bleiben. Ich bin österreichische Staatsbürgerin, geben Sie mir was." Die Beamten haben uns eine andere arisierte Wohnung zugewiesen, wo die Juden nicht mehr zurückgekehrt sind. In dieser arisierten Wohnung hat noch ein Nazi gehaust. Bis er etwas anderes fand, mussten wir mit ihm dort wohnen. Eineinhalb Jahre haben wir zusammen mit diesem Nazi gelebt, dann ist er aus­gezogen und wir haben die Wohnung übernommen.

"Stein der Erinnerung" mit dem Namen von Julius' Großvater Hersch Neumann
"Stein der Erinnerung" mit dem Namen von Julius' Großvater Hersch Neumann. Foto: Julius Neumark, privat
Ich habe immer schon etwas zur Erinnerung haben wollen. Der Stein im Boden in der Hörlgasse, den wir dort legen haben lassen, war für mich schon ein Bezugspunkt. Natürlich ist das ein Zeichen für mich, dass es noch einen Ort gibt, an dem der Name meines Großvaters dokumentiert ist. Ich habe gebeten, man möge meinen Großvater auf der Namensmauer mit Neumann Hersch anschreiben, weil dann ist er klar identifizierbar. Das ist auch geschehen. Er ist nun dort auf einer der Namensmauern und ich habe die Namensmauern besucht, ich habe seinen Namen gesehen und ein Foto gemacht. Meine Angehörigen, also meine Cousinen und deren Kinder, wissen jetzt, dass es einen Platz gibt, wo sie ihren Großvater oder Urgroßvater besuchen können. Er ist also nicht vergessen.

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte

Dokument

Julius Neumark – Die Geschichte hinter dem Namen (tagged PDF Deutsch + English) (PDF, 1 MB)