Zwi Nigal

Porträt Zwi Nigal
Zwi Nigal starb am 30. Juli 2023 in Israel. Foto: BKA/Amra Ducic
Mit dem Einmarsch Hitlers hat sich von einem Tag auf den anderen alles geändert.

Das Gespräch mit Zwi Nigal wurde am 11. September 2022 in Tel Aviv geführt.

Zwi Nigal wurde als Hermann Heinz Engel am 13. April 1923 in Wien geboren. Sein Vater stammte aus der ­heutigen ­Tschechischen Republik, seine Mutter aus Galizien. Im ­Jänner 1939 flüchtete Nigal als ­16-Jähriger aus Wien nach ­Palästina. Seine Mutter kam dort sieben Jahre später im ­damaligen ­britischen Mandatsgebiet Palästina (seit 1948: Israel) an. Sein Vater wurde 1944 im Konzentrationslager ­Auschwitz ermordet. Zwi hoffte, ­einmal noch nach Wien reisen zu können, um den Namen ­seines Vaters an der Shoah Namensmauern ­Gedenkstätte zu sehen.

Mein Vater stammte aus der heutigen Tschechischen Republik, aus der Gegend von Olmütz. Er kam aus einer Eisenbahner-Familie. Mein Vater war Eisenbahner, mein Großvater war Eisenbahner und ein Gerücht in meiner Familie ­besagte, dass auch mein Urgroßvater bei der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn Lokomotivführer war. Damals war das die öster­reichisch-ungarische Monarchie, seine Muttersprache war Deutsch. Meine Mutter stammte aus West­galizien, aus der Gegend von Bielitz. Sie wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen auf, denn sie stammte aus einer Großfamilie mit zehn Kindern. Ihr Vater war Metallarbeiter. Nach einem ­Unfall musste ihm sein Fuß amputiert werden, ich kannte ihn nur im Bett liegend. Meine Mutter war die Älteste, somit musste sie sich nach dem Unfall ihres Vaters um die Familie kümmern. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, erlernte sie den Beruf der Krankenschwester und bekam für ihren Einsatz an der Front in den Dolomiten eine Auszeichnung für besonderen Mut. Auch sie sprach Deutsch als Muttersprache. Meinen Vater lernte sie nach dem Krieg kennen. Er hatte zwei Töchter aus seiner ersten Ehe, dann verstarb seine erste Frau. Meine Eltern heirateten 1920. Ich wurde 1923 geboren, als einziger Sohn meiner Mutter. Meine Halbschwestern kannte ich kaum, denn sie verließen Wien, als ich drei Jahre alt war.

Zwi Nigal hält alte Fotos in seiner Hand
Foto: BKA/Amra Ducic, Zwi Nigal, privat

Mein Vater war Zionist. Er war Österreich treu und vollkommen ergeben, aber er wusste, unsere Zukunft liegt nicht in Österreich. Es war seine Überzeugung, dass man, solange man im Gastland lebt, diesem gegenüber unbedingt loyal zu sein hat. Das wurde streng eingehalten.

Ich wuchs in Wien ziemlich normal auf, ging bis zur 5. Gymnasialklasse in eine allgemeine Schule, also bis ich 15 Jahre alt war. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Mit dem ­Einmarsch Hitlers hat sich von einem Tag auf den anderen alles geändert.

Familienfoto: Die Mutter von Zwi Nigal gemeinsam mit zwei ihrer Brüder
Meine Mutter mit zwei ihrer Brüder, etwa im Jahr 1914. Foto: Zwi Nigal, privat
Foto: Zwi Nigal mit seinem Großvater
Mein Großvater und ich. Foto: Zwi Nigal, privat
Foto: Großmutter von Zwi Nigal
Das letzte Bild meiner Großmutter vor ihrer Ermordung im Holocaust. Foto: Zwi Nigal, privat

Bis dahin – muss ich betonen – gab es zwar Anti­semitismus in Österreich, aber ich spürte ihn eigentlich nicht. Ich war ziemlich beliebt in der Schule, weil ich ein guter Sportler war, aber ich dachte zum Beispiel nie daran, einen Nicht-Juden zu mir nach Hause einzuladen oder von einem eingeladen zu werden. 1938 änderte sich alles. Juden wurden zusammen­geschlagen. ­Wir hatten da aber relatives Glück. Juden konnten ja leicht daran erkannt werden, dass sie kein Hakenkreuz trugen. Denn die Leute trugen entweder ein Parteiabzeichen oder waren überhaupt in Uniform: in jener der SS, des BDM, der HJ oder was auch immer. Oder sie hatten eine entsprechende Schleife oder wenigstens an einem prominenten Platz das Hakenkreuz. Fremde Staatsbürger trugen die Farben ihres Landes und wer nichts hatte, war Jude.

Im Jänner 1939 verließ ich Österreich ganz legal, es war ja noch vor Kriegsausbruch, die Schiffe verkehrten noch normal. Ich war einer der relativ Wenigen, die von den Engländern ein Zertifikat bekamen, weil ich in der zionistischen Jugendbewegung war.

Mein Vater hätte bei der Bahn Stationsvorstand in Wien werden sollen, ihm wurde aber gesagt: "Einen Juden können wir dafür nicht nehmen." Also ging er in Pension und arbeitete im Palästina-Amt der Jewish Agency für das damalige Land Palästina, seit 1948 Israel. Dieses förderte und organisierte die Einwanderung ins Land Israel. 1939 fand in Genf der Zionistische Kongress statt und Eichmann ließ eine neunköpfige jüdische Abordnung hinfahren, darunter auch meinen Vater. Aus irgendeinem Grund nahmen die Deutschen meiner Mutter den Pass weg, bevor mein Vater zum Kongress fuhr. Als mein Vater noch in Genf war, brach der Krieg aus. Nachdem meine Mutter nicht wegkonnte, kam mein Vater zurück nach Wien. Meine Mutter war entsetzt, aber das einzige, was mein Vater ihr sagte, war: "Ich kann doch meine Frau in so einer Situation nicht alleine lassen." Es gelang meinem Vater schließlich noch, meiner Mutter auf ein Flüchtlingsschiff zu verhelfen, aber er selbst konnte nicht mehr weg. Er war bis 1942 in Wien, kam dann nach Theresienstadt und mit dem vorletzten Transport im Oktober 1944 nach Auschwitz.

Das Schiff meiner Mutter wurde von den Engländern gekapert. Die Engländer wollten damals zeigen, wer sie sind und schickten zur Abschreckung rund 2.000 Menschen auf die Insel Mauritius, wo sie bis zum Ende des Krieges interniert waren. Es war kein deutsches Konzentrationslager, aber angenehm war es sicher nicht.

Ich meldete mich im April 1941 zur britischen Armee, als die Situation wirklich kritisch war. Nach etwas mehr als fünf Jahren im Dienst der britischen Armee wurde ich 1946 entlassen, meine Mutter war gerade nach Palästina gekommen und wir haben wieder bei null begonnen. Aber meine Mutter war wirklich eine Persönlichkeit und fleißig. Ich kam auch irgendwo unter und fand eine Arbeit. Natürlich war ich zur ­selben Zeit schon in der Hagana, also in der Untergrundbewegung. Als die Unruhen im Land ­ausbrachen, wurde ich gleich in die gerade entstehende israelische Armee eingezogen. Ich wurde Offizier und absolvierte eine Militärkarriere. Man schickte mich für ein Jahr nach Frankreich an eine französische Militärschule und als ich zurückkam, musste ich weiter dienen. Als ich dann als Major schon aus dem Dienst ausscheiden hätte können, wurde ich von der Israelischen Armee an die Technische Universität (Technion Haifa) geschickt, dafür musste ich mich für zwölf Jahre Armeedienst, davon vier Jahre am Technion, verpflichten. Das Militär stellte seine ­Bedingungen. Bevor ich 50 Jahre alt war, kam ich noch in der Indus­trie unter, arbeitete bei einer großen israelischen Firma und lebte ein normales israelisches Leben.

Meine Frau lernte ich beim israelischen Militär ­kennen, wir sind seit 72 Jahren verheiratet. Wir haben zwei Söhne, sieben Enkel und sieben Urenkel. Viele Jahre lang wollte ich nicht nach Wien und kam auch nicht hierher. Beim ersten Besuch nahm ich nur meine beiden Söhne mit, zeigte ihnen alles, und dann erst kam ich mit der ganzen Familie. Wien ist eine schöne Stadt. Blöd wie ich damals war, als Junge mit 15, ging ich auf den Heldenplatz, um Hitler zu hören. Ich konnte meiner Familie das Denkmal zeigen, hinter dem ich damals stand. Ich hörte nicht viel von der Rede. Ich dachte nur: "Wie komme ich hier raus?" Glücklicherweise trug damals noch nicht jeder ein Hakenkreuz, deshalb schaute man noch nicht so darauf. Sonst wäre ich dort sicher zerrissen worden.

Foto: Zwi Nigal mit seiner Familie
Zwi Nigal mit seiner Familie. Foto: Zwi Nigal, privat
Auf der Namensmauer ist der Name meines Vaters vermerkt. Wir hatten sehr wenige Verwandte, aber der Name meines Vaters sticht dort heraus und die Mauer würde ich noch gerne einmal sehen. Als ich vor mehreren Jahren Theresienstadt besuchte, war ich bei den Schienen, von wo die Züge abgingen. Von dort fuhr ich nach Auschwitz, ich war sozusagen auf den Spuren der letzten Reise meines Vaters. Das hinterließ einen tiefen Eindruck bei mir.

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte