Jackie Young
Je mehr du zurückblickst, desto mehr siehst du auch in die Zukunft.
Das Gespräch mit Jackie Young wurde am 25. Mai 2022 in London geführt.
Jackie Young wurde am 18. Dezember 1941 als Jona Spiegel in Wien geboren. Im Alter von nur neun Monaten wurde er nach Theresienstadt deportiert. Nach der Befreiung im Mai 1945 wurde Jackie gemeinsam mit 300 weiteren Kindern in einem Stirling Bomber nach Bulldogs Bank in Sussex gebracht und so gerettet. Heute lebt Jackie in London.
Ich habe keine Erinnerungen an meine Kindheit. In Bulldogs Bank in Sussex verbrachte ich ungefähr ein Jahr in einem schönen Haus im Hügelland. Dort lernte ich auch Englisch. Von Bulldogs Bank kam ich zu Pflegeeltern, einem jüdischen Ehepaar, nach Weir Courtney in Lingfield, die mich schließlich im Alter von neun Jahren adoptieren. Diese Tatsache erfuhr ich jedoch erst später. In meiner Schule wussten alle Kinder, dass ich adoptiert bin und so fand ich es heraus. Ich ging nach Hause und fragte daraufhin meine Eltern, ob es stimmte. Sie bejahten die Frage. Mit dieser neuen Erkenntnis lebte ich einige Zeit, bis mir meine Adoptivgroßmutter erzählte, dass ich nicht einmal ein Brite war, sondern ursprünglich Österreicher. Für mich klang das in dem Moment völlig verrückt.
Mit 21 Jahren beschloss ich zu heiraten. Damit ich meine Frau in einer Synagoge ehelichen konnte, musste ich einige Dokumente vorweisen. So bekam ich zum ersten Mal meine Geburtsurkunde zu sehen. Diese hatte meine Adoptivmutter über die Jahre hinweg in einem Safe verwahrt. Ich fand auch die Dokumente über meine Zeit im Konzentrationslager in Theresienstadt. Für mich waren diese Fakten über meine Vergangenheit unglaublich. Ich erinnerte mich nicht daran, Österreicher gewesen zu sein, ich fühlte mich auch nicht so: Ich sprach perfektes Englisch. Aber die Realität holte mich ein. Nach der Hochzeit ermutigte mich meine Ehefrau, mehr über meine Vergangenheit herauszufinden. So begann ich mit den Nachforschungen, für die ich bestimmt ein Dutzend Mal nach Wien und auch nach Prag reiste. Viel konnte ich jedoch nicht in Erfahrung bringen. Über meinen Vater ist nichts bekannt. Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Meine leibliche Mutter hieß Elsa Spiegel, sie war Wienerin. Weiters erfuhr ich von meinem Großvater Leopold und meiner Großmutter Emily Spiegel sowie Tante Hilda und Onkel Rudolph.
Jackie Youngs Mutter Elsa wurde nach Maly Trostinec deportiert. Sein Großvater kam – wie Jackie selbst – zuerst nach Theresienstadt, wurde jedoch von dort ebenfalls nach Maly Trostinec deportiert. Sein Onkel und seine Tante überlebten nicht, auch sie wurden in Konzentrationslager gebracht. Jackie Youngs größter Halt sind seine Frau Lita, die er liebevoll die Liebe seines Lebens nennt, und seine beiden Töchter. Sie haben ihn bei seiner Suche nach Antworten zu seiner Herkunft und Familie tatkräftig unterstützt. Auch wenn seine Adoptiveltern lange Zeit nicht wollten, dass Jackie etwas über seine wahre Vergangenheit in Erfahrung bringt, waren sie für ihn immer seine Eltern. Er ist ihnen dankbar für das Leben, das sie ihm gegeben haben.
Jackie Young besuchte mit seiner Frau Lita, seiner Tochter und seinem Enkelsohn die feierliche Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte am 9. November 2021.
Ich finde, die Namensmauern Gedenkstätte ist besser als ein Museum. Natürlich kann man den persönlichen Kontakt nicht ersetzen, wenn jedoch wir – die Zeitzeugen, die überlebt haben – wegsterben, dann gibt es die Mauern weiterhin. Die Menschen sagen immer: "Ah, das ist alles übertrieben, unwahr" und so weiter. Aber auf den Mauern stehen die einzelnen Namen. Da kann man nicht sagen: "Das ist nie geschehen!"
Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.
Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich
Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.
Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.