Francis Wahle
Auf den Mauern stehen die einzelnen Namen. Da kann man nicht sagen: "Das ist nicht geschehen!"
Das Gespräch mit Francis Wahle wurde am 24. Mai 2022 in London geführt.
Francis Wahle wurde im Jahr 1929 in Wien geboren. Seine Schwester Anna und er haben Wien in einem Kindertransport im Jänner 1939 verlassen. Seine Eltern haben im Untergrund in Wien überlebt. Heute lebt der römisch-katholische Priester im Ruhestand in London.
Mein Geburtsname ist Franz, nach dem Bruder meiner Mutter. Ich bin römisch-katholischer Priester im Ruhestand und 93 Jahre alt. Ich erinnere mich nur an einzelne Dinge vor dem Kindertransport. Einmal waren wir die Gastgeber einer Kinderjause. Ich hatte damals ein hölzernes Pferd. Eines der Mädchen, das bei uns zu Gast war, war sehr wild und ich hatte Angst um mein Spielzeug. Mein Vater sagte: "Lass sie machen! Wenn sie es ruiniert, lass sie es ruinieren." Ich erinnere mich auch an den Flieder im Park vor der Wohnung in der Gonzagagasse, an den Donaukanal am Rudolfsplatz und an den Geruch. An Extrawurst erinnere ich mich. Aber an nichts Zusammenhängendes.
Durch den Kindertransport bin ich schon im Jänner 1939 nach London gekommen. Diese Transporte haben erst im Dezember 1938 nach der "Kristallnacht" angefangen. Bis zu diesem Zeitpunkt wollten meine Eltern mit meiner Schwester und mir nach Italien, wo wir Verwandte hatten. Sie haben uns am 10. Jänner 1939 schweren Herzens in diesen Zug einsteigen lassen. Ich war neun Jahre alt und meine Schwester war zweieinhalb Jahre jünger, also musste ich auf sie aufpassen.
Es war am Westbahnhof am Abend, die Eltern durften nicht wirklich Abschied nehmen, weil die Gestapo emotionale Verabschiedungen vermeiden wollte. Als wir die holländische Grenze überquerten, haben uns Frauen dort Limonade und Kuchen gegeben. Das ist meine erste Erinnerung. Dann ging es mit dem Schiff von Holland nach Harwich und weiter mit dem Zug zum Bahnhof in London. In London wurden meine Schwester und ich getrennt. Ein Mann war dort, um sie abzuholen, und ich wurde zu einem Kinderheim gebracht, das für Geflüchtete eingerichtet worden war. Eine englische Dame hat ihr Haus dem Komitee für katholische Kinder zur Verfügung gestellt und da waren ein Priester, Nonnen und um die 16 Kinder, Mädchen und Buben, alle etwa in meinem Alter.
Das Haus hieß Bankton House, hatte einen sehr schönen Teich, sogar mit einem kleinen Boot. Sobald wir Englisch verstanden, wurden wir auch in die Schule geschickt. Nach ungefähr 18 Monaten durfte das Haus keine "enemy aliens" mehr beherbergen, weil es zu nahe an der Küste war und wir den U-Booten Signale hätten senden können – verrückt natürlich, aber so war das. Ich kam dann, nach den Sommermonaten, zu den Jesuiten ins Stonyhurst College, ein privates Internat, welches ich kostenlos besuchen durfte. Dort verbrachte ich sechs Jahre. Das war in Lancashire, also in Nordwest-England.
Meine Schwester war in einem Kloster, sie war sehr unglücklich, weil die Nonnen keine Ahnung hatten, wie man mit einem Kind in ihrem Alter, das die Sprache nicht spricht, die Sitten nicht kennt, das Essen nicht mag und einsam war, umgeht. Das waren die Ursulinen. Dann ist sie zu "Unserer Lieben Frau von Sion" in Bayswater gekommen, wo sie dann viel später auch als Nonne eingetreten ist. Sie ist vor 20 Jahren gestorben.
Wir sind im Jänner 1939 nach England gekommen. Der Krieg ist im September 1939 ausgebrochen. Aber der Kontakt nach Österreich und zu den Eltern blieb auch während des Krieges durch das Rote Kreuz aufrecht, da konnte man jeden Monat ein Lebenszeichen senden. Und bis Dezember 1939 hatten wir ganz normalen Postverkehr, auch mit meiner Tante Elli, die sich 1940 aus dem Fenster gestürzt hatte, nachdem die Gestapo sie mitnehmen wollte.
Österreich war nach dem Krieg zerstört. Der Schilling war außerhalb Österreichs wertlos und meine Eltern hätten uns nie erlaubt zurückzukehren, während die Russen in Wien stationiert waren. Meine Eltern überlebten drei Jahre lang als U-Boote in Wien. Mein Vater war Richter nach dem Krieg, sie sagten zu ihm: "Das ist der Oberste Gerichtshof, bau ihn wieder auf!" Er musste Holz für die Fenster kaufen, es war nichts mehr da! Meine Mutter hat sich nach ein paar Jahren für einen UNESCO-Kongress in Paris als Dolmetscherin beworben und von Paris aus einen Tagesausflug nach London gemacht. Das war das erste Mal, dass wir sie wiedergesehen haben. Sie konnte uns nicht einmal Fotos schicken, es war nichts da, um Fotos machen zu können.
Ich war damals bei John Lewis angestellt, einem Warenhaus hier. Mein Vater hat gesagt: "Du verdienst mehr im Jahr als ich!" Dabei war er ein Richter und ich war 20 Jahre alt. "Hier ist nichts, bleib dort! Wir können uns ja gegenseitig besuchen." Im Sommer sind wir nach Österreich in die freie Zone gereist und haben uns getroffen.
Mein Vater war Altkatholik und ist dann römisch-katholisch geworden, hat sich sozusagen eingelesen. Meine Mutter ist jüdisch geblieben. Ich hatte dem lieben Gott so viel zu verdanken, dass er meine ganze Familie gerettet hat.
Der Name von Francis Wahles Tante, der Schwester seines Vaters, findet sich auf der Namensmauern Gedenkstätte. Nachdem sie im Jänner 1940 nachts von den Nazis mitgenommen hätte werden sollen, beging sie mit einem Sprung aus dem Fenster Selbstmord.
Ich finde, die Namensmauern Gedenkstätte ist besser als ein Museum. Natürlich kann man den persönlichen Kontakt nicht ersetzen, wenn jedoch wir – die Zeitzeugen, die überlebt haben – wegsterben, dann gibt es die Mauern weiterhin. Die Menschen sagen immer: "Ah, das ist alles übertrieben, unwahr" und so weiter. Aber auf den Mauern stehen die einzelnen Namen. Da kann man nicht sagen: "Das ist nie geschehen!"
Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.
Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich
Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.
Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.