Kurt Rosenkranz

Porträt Kurt Rosenkranz
Foto: BKA/Hans Hofer
Das kann man nicht, das darf man auch nicht vergessen! Das ist mein Leben.

Das Gespräch mit Kurt Rosenkranz wurde am 4. März 2022 in Wien geführt.

Kurt Rosenkranz wurde am 2. August 1927 in Wien geboren. Seine Eltern waren aus Polen nach Österreich zugewandert. Um sich zu retten, flüchtete die Familie nach Riga. Als sie die deutsche Wehrmacht dort einholte, wurden sie in sowjetischen Gefangenenlagern zuerst in Nowosibirsk und später in Karaganda interniert. Sie überlebten und kehrten nach Wien zurück, über 60 seiner Familienmitglieder wurden umgebracht. Vier ihrer Namen finden sich auf der Namensmauern Gedenkstätte.

Meine Eltern stammten aus Polen und wir lebten mit meinem Bruder, er war drei Jahre älter als ich, in Wien, wo ich geboren bin. Wir waren ein frommes Haus. Ich bin im 20. Bezirk groß geworden, in der Wallensteinstraße, und war immer ein "Lausbua". Ich war selbstverständlich fromm, aber bin in keine jüdische Schule gegangen. Ich war Mittelstürmer der Schulauswahl. Hitler ist 1938 einmarschiert und über Nacht war ich ein Aussätziger, so wie alle jüdischen Kinder. Oft haben wir auf der Gasse ­gespielt, manchmal sogar mit unserem Klassenvorstand, der "leiwand" war. Hitler marschierte an einem Freitag ein. Am darauffolgenden Montag gingen wir in die Schule – und unser Klassenvorstand kam herein mit einer Hakenkreuzbinde: "Heil Hitler! Saujuden, nehmt eure Sachen, euer Schreibzeug etc. und marsch in die Eselsbänke!" Das war für uns alle – wir waren ziemlich viele Juden – unvorstellbar. Das kann ich nicht vergessen. Am Samstag gab es schon kein einziges intaktes jüdisches Geschäft mehr: Sie waren arisiert und die Besitzer wurden gezwungen, die Schlüssel zu übergeben. Vor allem die frommen Juden, die an ihrem Bart zu erkennen waren, wurden verhaftet und nach Dachau transportiert.

Bald mussten wir in eine jüdische Schule in der ­Währinger Straße. Unser Lehrkörper bestand aus Nazis, die uns auch geschlagen haben. Es war fürchterlich für mich. Es gab Schlägereien und selbstverständlich waren wir in der Minderheit. Das waren unvergessliche Wochen und Monate. Meine Eltern wollten nicht, dass ich auf die Straße gehe und so waren wir gezwungen, zu Hause zu bleiben. Es gab eine Panik in der Bevölkerung und die Juden versuchten, ins Ausland zu fliehen. Die Grenzen waren für Juden jedoch geschlossen. Es gab kein Entkommen.

Mein Vater, der eine Schuhfabrik in der Schmelzgasse im 2. Bezirk hatte, musste die Schlüssel abgeben und stand fortan auf der Straße. Meine Mutter war wirklich eine Heldin. Sie war eine Invalidin, hatte eine Beinprothese und war eine sehr anerkannte Frau. Eines Tages, es muss im August gewesen sein, kam sie nach Hause und sagte zu uns: "Heute habe ich auf der Straße gehört, dass es eine Möglichkeit gibt, nach Lettland, nach Riga auszuwandern!" Meine ­Mutter schrieb nach Berlin ins lettische Konsulat, weil es in Wien keines gab, und wir bekamen postwendend eine Zusage: "Sie können mit einem ­Touristen­visum nach Lettland auswandern." Der Abschied von meinen Großeltern war furchtbar. Mein Großvater starb 1942 in Wien eines natürlichen Todes. Meine Großmutter Rifka, die ich so liebte, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und im KZ Treblinka ermordet. Wir mussten in zwei Taxis nach Berlin fahren, denn wenn ein Taxi voll besetzt war, wurde es von der SA oder der Hitlerjugend sofort gestoppt und die Juden darin verhaftet. Wir kamen nach Berlin und trauten unseren Augen nicht: Da gab es jüdische Geschäfte! Berlin war wunderschön, aber beflaggt mit Hakenkreuzfahnen – das war auch in Wien so. Wir fragten: "Um Gottes Willen, was macht ihr da?" "Ach, wir sind ja Deutsche, uns passiert nichts." Das Resultat kennen wir.

Wir bekamen die Visa und fuhren nach Stettin, um weiter nach Lettland zu reisen. Es wurde nochmals das Gepäck kontrolliert und alles Kostbare wurde konfisziert. Die letzten Worte von einem SS-Mann, bevor wir aufs Schiff gingen, waren: "Ihr Saujuden, lasst euch hier nicht mehr blicken, denn wenn ihr zurückkommt, dann wisst ihr, was euch blüht!" Da bekomme ich jetzt noch eine Gänsehaut, denn wir waren plötzlich niemand. Nach fünf Tagen, wir waren elf Emigranten, kamen wir in Lettland an. Von der jüdischen Gemeinde in Riga wurden wir mit offenen Armen begrüßt. Wir wurden zuerst in Hotels ­einquartiert. Mit der Zeit bekamen wir dann mit anderen Juden eine Wohnung und ich ging in die Schule, spielte wieder Fußball und es war ein wunderbares, freies Leben für uns Kinder und für meine Eltern. Dann kam das Jahr 1939, der Hitler-­Stalin-Pakt, und die Russen besetzten Riga.

Ich hatte eine hohe Position in der Kommunistischen Jugend. In der Schule bin ich in ganz kurzer Zeit ein "hohes Viech" geworden – das hat sich gut angefühlt. Offiziere haben mich, mit meinen 13 Jahren, auf der Straße gegrüßt. Dann kam der Juni 1941, Kriegs­ausbruch. Um vier Uhr in der Früh klopfte es an unserer Tür, draußen stand ein Rotarmist. Ich habe meinen Odreadausweis gezeigt und er spuckte darauf, warf den Ausweis auf den Boden und trat darauf. In diesem Moment ist der Kommunismus in mir gestorben.

Wir wurden zwei Tage interniert, erlebten dort drei Bombenangriffe der Deutschen und wurden dann nach einigen Tagen, unter schwerster Bewachung, zu einem Bahnhof gebracht und in Güterwaggons nach Nowosibirsk verfrachtet. Insgesamt waren wir zwei Monate lang unterwegs. Die Leute hatten dort überhaupt keine Bewegung, keine Arbeit, kein gar nichts. Es war eine Aggressivität in dem Lager, das kann man sich überhaupt nicht vorstellen.

Nach einem Jahr wurden wir wieder einwaggoniert und kamen nach Karaganda, die zweitgrößte Kohlelagerstätte der Sowjetunion. Dort kamen wir in ein Lager, wo Frauen und Männer getrennt wurden. Es war ein Arbeitslager. Es gab Landwirtschaft und die Leute hatten Beschäftigung, aber auch dort herrschte eine Aggressivität – unvorstellbar. Dort war ich mit meinen Eltern bis 1947. Wir hatten wenig zu essen, es gab viele Tote und Kranke, aber gottlob: Wir haben es durchgestanden. Das war kein Honiglecken, diese fünf Jahre.

Wir fuhren mit dem Zug 64 Tage lang bis an die österreichisch-slowakische Grenze und im März 1947 kamen wir in Wien an, und dann gleich weiter ins Rothschild-Spital. Wir wurden am Matzleinsdorfer Bahnhof von der Kultusgemeinde empfangen. Wir kamen in die Meldemannstraße ins Obdachlosenasyl für Männer und dort waren wir etwa acht Monate lang, bis wir eine Wohnung in der Taborstraße ­bekamen.

Meine gottselige Mutter hat zu mir gesagt: "Kurt, du bist ein fescher Bursch, du lebst, wir leben, du musst auf dich schauen", und da bin ich aufgewacht und habe begonnen zu lernen und habe die ­Mittelschule abgeschlossen. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich wieder zur Besinnung gekommen bin: Was erzählst du deinen Kindern? Du musst deine ­Lebensgeschichte weitergeben und darauf auf­merksam machen, dass so etwas hoffentlich nie mehr passiert, was da passiert ist, denn über 60 Mitglieder meiner Familie wurden umgebracht. Im Laufe der Jahre habe ich immer mehr über die Zeit nachgedacht, in der ich im Lager war und die mich geformt hat. Durch die Kultusgemeinde – ich war ein ­Funktionär – habe ich selbst begonnen, Vorträge zu halten. Wir, die Überlebenden haben die Verpflichtung dazu, weil leider Gottes in Österreich damals sehr wenig von der Regierung oder von irgend jemandem gekommen ist. Ich bin überzeugt: Das war wichtig! Meine Frau sagt immer wieder: "Kurt, pass auf dich auf!" Ich passe auf mich auf. Aber meine Vergangenheit liegt mir im Nacken. Das kann man nicht, das darf man auch nicht vergessen! Das ist mein Leben.

Ich habe auf den Namensmauern vier Verwandte gefunden und ich hatte ungefähr 60, die verstorben sind – darunter zwei von meinen Großeltern.

Es ist wichtig, dass diese Namensmauern in Wien gebaut wurden, weil vor dem Krieg der Großteil der Juden in Wien gelebt hat. Die Totenverehrung ist sehr wichtig im Judentum, ein Toter ist heilig! Es ist wichtig, man darf es nicht vergessen, weil das Judentum weiter bestehen muss. Deshalb habe ich auch darum gekämpft, das einzige "Jüdische Institut für Erwachsenenbildung" für ­Nicht-Juden zu gründen. Das war ein schwerer Kampf gegen Österreich und auch gegen die Kultusgemeinde, die das nicht wollte. Daraufhin habe ich meinen Professorentitel bekommen. Meine Mutter wäre sehr stolz gewesen: ihr Sohn – der Schuhmacher – ist ein Professor.
Kurt Rosenkranz erzählt seine Geschichte sitzend in seinem Wohnzimmer.
Foto: BKA/Dragan Tatic

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte

Dokument

Kurt Rosenkranz – Die Geschichte hinter dem Namen (tagged PDF Deutsch + English) (PDF, 429 KB)