Rafael Menkes
Es wird eine lange Reise, vielleicht solltet ihr euch noch ein Packerl Zigaretten mitnehmen.
Das Gespräch mit Rafael Menkes wurde am 8. Juni 2022 in Washington, D.C. geführt.
Rafael Menkes lebt mit seiner Familie in Bethesda, Maryland. Seine Eltern stammen beide aus Wien. Sie waren gezwungen, ihre Heimat im Zweiten Weltkrieg auf unterschiedlichen Wegen zu verlassen, um zu überleben. Sein Vater, John Hans Menkes, gilt als ein Begründer der Kinderneurologie. Nach ihm wurde die Menkes-Krankheit benannt, zu deren Entdeckung und Heilverfahren er beigetragen hat.
Mein Vater, John Hans Menkes, wurde in Wien geboren. Meine Mutter, Miriam Margaret Menkes, geborene Trief, wurde ebenso in Wien geboren. Sie lernten sich in New York kennen. Kurz vor Kriegsausbruch flüchtete mein Vater mit seinen Eltern nach Irland. Dort blieb er ein paar Jahre, bis er die Erlaubnis bekam, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Er wuchs in Los Angeles auf und studierte an der Johns Hopkins Universität Medizin.
Meine Mutter kam auf einem anderen Weg in die USA. Meine Großmutter mütterlicherseits war das älteste von vier Kindern. Es war somit ihre Aufgabe, alle Familienmitglieder sicher aus Österreich herauszubringen. Die drei Schwestern meiner Großmutter emigrierten mit ihren Familien in die USA, meine Großmutter musste mit meiner Mutter jedoch nach Australien auswandern. So wuchs meine Mutter in Sydney auf. Sie begann, an der New South Wales Universität zu studieren – es war der erste Jahrgang, in dem Frauen zum Medizinstudium zugelassen wurden. Ihre Assistenzzeit absolvierte sie dann in New York im Bellevue Krankenhaus. Dort lernte sie meinen Vater kennen.
Meine Eltern haben nie viel über ihre Zeit in Wien oder ihre Flucht erzählt. Mein Vater war ein Einzelkind, er sagte einst: "Alle aus meiner Familie sind weg." Mein Vater war elf Jahre alt, als er Wien verließ. Er sollte mit meinem Urgroßvater und meinem Großvater deportiert werden, aber ein Freund meines Großvaters – er war Österreicher und Polizist – sagte ihnen: "Es wird eine lange Reise, vielleicht solltet ihr euch noch ein Packerl Zigaretten mitnehmen." Also gingen sie Zigaretten kaufen und als sie zurückkamen, waren alle anderen schon weg.
Meine Mutter erzählte einmal von der Zeit, in der sie sich immer verstecken musste. Jedes Mal, wenn jemand in die Wohnung kam, um jemanden mitzunehmen, musste sie sich in einem Schrank verstecken. So konnte sie überleben. Sogar die gesamte Familie überlebte. Mein Großvater gründete eine Firma in Sydney und stellte unter anderem faltbare Kleiderbügel für Reisen her.
Meine Großmutter väterlicherseits hat ihre Flucht in die USA schwer traumatisiert. Sie hatte seither permanent das Gefühl, jemand verfolge sie, also hat sie das Haus nie mehr verlassen.
Ich war noch nie in Wien. Meine Eltern haben beide nie wirklich mit mir über ihre Vergangenheit gesprochen. Mein Vater besuchte die Stadt zwar noch manchmal, aber meine Mutter kehrte nie mehr zurück. Ich plane gerade meine erste Reise nach Wien mit meiner Familie und ich würde wirklich gerne mehr über meine Familiengeschichte herausfinden, um die Namen meiner Verwandten auf der Namensmauern Gedenkstätte zu finden. Erinnern ist wichtig, vor allem auch in Form einer Gedenkstätte als Mahnmal für die Zukunft. Alleine wenn man daran vorbeigeht und sich bewusst macht, was geschehen ist und welches Leid die Menschen, die hinter diesen Namen stehen, ertragen mussten, so trägt das dazu bei, dass so etwas nie wieder geschehen wird.
Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.
Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich
Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.
Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.