Hella Pick
"Goodbye". Das war alles, was ich gewusst habe.
Das Gespräch mit Hella Pick wurde am 23. Mai 2022 in London geführt.
Hella Pick wurde am 24. April 1929 in Wien geboren. Hier lebte sie bis zu ihrem 10. Lebensjahr. Nach dem "Anschluss" Österreichs konnte sie 1939 mit einem Kindertransport nach London flüchten, wo sie heute noch lebt.
Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich noch ganz klein war, erst drei Jahre alt. Da meine Mutter viel gereist ist, habe ich viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht, die auch in Döbling ihre Wohnung hatten, so wie meine Mutter und ich. Ich bin jüdischer Abstammung, war nie religiös und die Familie meiner Mutter war auch nicht religiös. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich mich als Kind in der Schule nicht anders gefühlt als alle anderen Kinder. Ich habe auch noch eines von diesen schönen Geburtstagsbüchern, die Kinder bekommen haben, wo alle meine Schulfreunde etwas zu meinem Geburtstag hineingeschrieben haben. Zufällig ist das nicht verloren gegangen. Vor einigen Jahren habe ich es mir angeschaut und war sehr erstaunt, wie lieb meine Freunde zu mir waren und mir geschrieben haben. Leider habe ich überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihnen und kann mich nicht mehr wirklich erinnern, wer das aller war. Aber alles hat sich natürlich geändert im Jahr 1938.
Meine Mutter hatte sich entschlossen, in die Innenstadt umzuziehen. Wir haben bei der Freundin meiner Mutter gelebt. Sie dachte sich irgendwie, es ist sicherer in der Innenstadt als außerhalb. Ich kann mich noch genau erinnern, dass zwei Mal die Gestapo gekommen ist und meine Mutter mitgenommen hat. Sie ist aber zum Glück jedes Mal zurückgekommen. Danach entschied sie jedoch, dass alles viel zu gefährlich wird und zumindest ich gerettet werden muss. Sie suchte darum an, dass ich mit einem Kindertransport nach England gebracht werden konnte. Ich wurde angenommen, es war ja sehr selektiv, wer mitkommen durfte.
Im Alter von zehn Jahren bin ich in London gelandet, bei einer sehr lieben Londoner Familie, die mich auch sofort wieder in die Schule geschickt hat. Ich konnte überhaupt kein Englisch. Das einzige Wort, an das ich mich erinnern kann und welches ich gesagt habe, als ich angekommen bin, war: "Goodbye". Das war alles, was ich gewusst habe. In meinem ersten Zeugnis von der Londoner Schule haben die Lehrer geschrieben, dass ich sehr schnell gelernt habe. In diesem Alter lernt man ja Sprachen sehr schnell und mir ist das wirklich sehr leicht gefallen.
Und zu meinem großen Glück, dieses hatten viele andere Transportkinder natürlich nicht, ist meine Mutter nach London nachgekommen, da sie auch für sich ein Visum bekommen konnte. Frauen durften nur kommen, wenn sie auch bereit waren, als Hauspersonal zu arbeiten, also Haushaltsanstellungen anzunehmen. England hatte einen großen Bedarf an Haushaltshilfen, deswegen war es leicht für einzelne Frauen, ein Visum zu bekommen. Aber sie ist natürlich mit nichts angekommen. Sie musste alles, was sie hatte, zurücklassen. Sie ist ohne Geld, ohne irgendwelche Mittel, angekommen und musste sofort arbeiten. Sie war dann außerhalb von London bei einer Familie, die sie wirklich wie eine Haushaltshilfe behandelt hat.
Meine Mutter kam aus einer bürgerlichen Familie, einer jüdischen Mittelschichtfamilie. Für sie war es natürlich nicht leicht, plötzlich ganz anders behandelt zu werden. Sie hat dann sofort versucht, eine andere Stelle zu bekommen, wo sie ein angenehmeres Leben haben könnte. Sie hat Glück gehabt und ist zu einer Familie gekommen, die sie als jemanden gesehen hat, der einen guten Apfelstrudel machen kann und das konnte sie. Diese Familie hat in einem sehr schönen Haus außerhalb des Zentrums von London gewohnt. Sie hatten auch ein Haus am Land, im englischen Lake District. Das ist eine Gegend mit Bergen und Seen, landschaftlich wirklich sehr, sehr schön. Ich war noch immer bei der Familie, die mich aufgenommen hatte. Im August 1939, einen Monat vor Beginn des Krieges, lud mich die Familie, bei der meine Mutter gearbeitet hat, ein, gemeinsam mit ihr in das Haus am Land im Lake District zu kommen. Die Familie hat sich wirklich gut um uns gekümmert. Wir waren mit den Kindern der Familie dort, die in meinem Alter waren, und sie sind quasi jetzt noch meine Familie. Wir sind seit diesem Sommer Freundinnen bzw. Freunde geblieben. Wir blieben auch nach dem Sommer 1939 im Lake District. Die Familie fuhr zwar zurück nach London, sie kümmerte sich jedoch davor noch darum, dass meine Mutter eine andere Anstellung als Köchin bekommt. Wir waren weit entfernt von London und zu meinem Glück wirklich weit entfernt vom Krieg. Ich bekam einen kostenlosen Platz in einer Privatschule, später erhielt ich von vielen Seiten Unterstützung und konnte so die ganze Schulzeit dort absolvieren. Ich lebte nun mit meiner Mutter in dem Haushalt, in dem sie als Köchin arbeitete. Sie wurde dort wieder nur als die Köchin angesehen, die Familie war nicht besonders freundlich zu ihr und zu mir. Aber es war ein schönes Haus mit einem prachtvollen Garten, der am See lag und ich konnte schwimmen gehen. Ich habe sogar gelernt zu fischen und das war natürlich sehr aufregend. So lebten wir nun sicher im Lake District, aber wir hatten keine Pässe. Die Pässe waren uns abgenommen worden, als wir Österreich verlassen hatten. Wir waren also ohne Staatsbürgerschaft. Meine Mutter und ich waren als "enemy aliens" eingestuft, also feindlicher Ausländer. Das war nicht sehr angenehm. Sofort nach dem Krieg habe ich um die britische Staatsbürgerschaft angesucht, die ich dann auch sehr bald, 1947, bekommen habe.
Zu Kriegsende war ich gerade einmal 17-einhalb Jahre alt und wurde in der "London School of Economics" aufgenommen. Ich war unter den Jüngsten, denn eigentlich konnte niemand unter 18 Jahren aufgenommen werden. Aber sie machten eine Ausnahme und gaben mir einen Platz. Ich hatte das große Glück, dass ich von Professor Harold Laski sehr unterstützt wurde, einem der bekanntesten Politikwissenschafter in England zu dieser Zeit.
Meine Mutter wäre, glaube ich, sehr gerne zurück nach Österreich gegangen, wenn sie die Mittel dazu gehabt hätte. Ich selbst bin ganz oft nach Wien gefahren, schon 1948 / 49 besuchte ich es erstmals wieder. Ich habe es noch gesehen, als es schwer beschädigt war. Ich habe dann angefangen, mit Freundinnen und Freunden so oft ich konnte auf Urlaub in die österreichischen Berge zu fahren: in das Salzkammergut, nach St. Wolfgang und Tirol. Ich war von Anfang an immer gern in meinem Österreich, aber zurückzukommen und in Österreich zu leben, das ist mir eigentlich nie eingefallen.
Hella Pick begann ihre journalistische Tätigkeit als freie Mitarbeiterin, unter anderem auch für die BBC. Ab 1961 schrieb sie für mehr als 30 Jahre für die britische Zeitschrift "The Guardian".
Hella Pick war bei der feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte in Wien am 9. November 2021 anwesend.
Die Großmutter von Hella Pick, Olga Spitz, ist eine von rund 65.000 in der Shoah ermordeten Frauen, Männer und Kinder aus Österreich. Sie stammte ursprünglich aus dem Sudetenland. Sie verließ Wien Richtung Prag und hoffte dort auf ein Visum für England. Sie wurde verhaftet, kam zuerst nach Theresienstadt und wurde später mit einem Transport nach Polen geschickt, wo sich ihre Spur verliert.
Ich finde die Gedenkstätte imposant und ich hoffe, dass diese wirklich ein Zeugnis ist, dass Österreich jetzt endlich versteht, was passiert ist und was Österreich getan hat.
Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.
Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich
Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.
Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.
Dokument
Hella Pick – Die Geschichte hinter dem Namen (tagged PDF Deutsch + English) (PDF, 1 MB)