Otto Nagler
Man muss manchmal Glück und eine strenge Mutter haben.
Das Gespräch mit Otto Nagler wurde am 11. September 2022 in Tel Aviv geführt.
Ich bin im Oktober 1920 in Wien geboren. Es hat damals geschneit. Das weiß ich, weil mir meine Mutter davon erzählt hat und es nicht üblich war, dass es im Oktober schon schneit. Die ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren eine sehr schwere Zeit, man hat sehr gehungert und nicht genug zum Heizen gehabt. Es war für die ganze Bevölkerung keine leichte Situation, aber für die Jüdinnen und Juden war es besonders hart. Ich war aus einer guten Familie, aber wir waren nicht reich. Einen großen Einfluss auf mich hatte die strenge Erziehung meiner Mutter. In der Schule war ich kein Vorzugsschüler, aber ich habe gerne gelernt und auch mit viel Glück die ganzen acht Jahre geschafft und die Matura machen können. Wäre meine Mutter nicht gewesen, wäre ich ein Jahr später in die Schule gekommen – ich wäre 1939 dann erst in der 7. Hauptschulklasse gewesen, hätte flüchten müssen und keine Matura machen können. Ich wurde im Oktober geboren und der Schuleintritt in die Volksschule war im September, aber meine Mutter glaubte, ich bin zu gescheit und schickte mich auf das Magistratsamt. Ein großer Beamter hinter einem schweren Schreibtisch nahm einen Kerzenleuchter und fragte mich: "Was ist das?" Ich antwortete: "Ein Kerzenleuchter." Da sagte er zu meiner Mutter: "Der ist gescheit, der kann in die Schule gehen." Weil ich dadurch ein Jahr früher in die Schule eintreten durfte, konnte ich dann 1938 zur Matura antreten. Man muss manchmal Glück und eine strenge Mutter haben.
Unsere Familie war sehr assimiliert, meine Mutter hat mehr Wienerisch als Hochdeutsch gesprochen. Meine Eltern sind beide in Wien geboren und auch ihre Eltern kamen alle aus der Gegend. Ab 1933/34 hat sich die gesamte Situation in Österreich verändert. Österreich hatte den Krieg verloren, was sich besonders auf die Wirtschaft negativ ausgewirkt hat. Es war eine sehr schwere Zeit. Nicht nur unsere Familie hatte manchmal nichts zu essen, auch in der Gesamtbevölkerung herrschten Armut und Hunger, auch wenn an einen großen Teil der Bevölkerung Lebensmittelpakete verteilt wurden. Dadurch hat sich auch der Wunsch nach einem "Anschluss" an Deutschland sehr verstärkt. Deutschland hatte begonnen, seine Wirtschaft anzukurbeln, vor allem durch die Ankurbelung der Rüstungsindustrie. Dadurch hat sich die Situation für die Bevölkerung unter dem Einfluss Hitlers verbessert, er hat aber auch den Antisemitismus verstärkt. In Österreich war man immer ein bisschen antisemitisch, das hat dazugehört. Aber in Österreich haben Jüdinnen und Juden sowie Christinnen und Christen trotz allem zusammengelebt, mit Liebe und mit Hass von beiden Seiten und es ist doch ganz gut gegangen.
In der Schule habe ich zwar keinen Antisemitismus erfahren, aber man hat gespürt, dass sich der Nationalsozialismus immer mehr ausbreitet. Er war ja verboten, aber viele meiner Freunde in der Klasse waren Nazis. Und wenn ich dann zu meinem guten Freund gesagt habe: "Bist du ein Nazi?", da zischte er mich an: "Sag das nicht! Wenn das jemand hört und ich werde angezeigt, fliege ich aus der Schule!" Es sind viele junge Menschen übergetreten, haben sich der Jugendbewegung der nationalsozialistischen Partei angeschlossen. Mein bester Freund war ein Christ, wir sind im selben Jahr geboren, haben zwölf Jahre dieselben Schulen besucht, wir waren die besten Freunde. Aber 1934/35 ist das nicht mehr gut gegangen. Da habe ich gesehen, dass wir nicht mehr Teil derselben Gesellschaft sind. Also sind Leute zu mir gekommen und haben gesagt: "Tritt in die zionistische Organisation ein!" Da bin ich dort eingetreten, obwohl ich vom Judentum fast nichts verstanden habe. Ich bin nicht religiös aufgewachsen. Eigentlich war ich nicht überzeugt, aber ich habe verstanden, dass es keine andere Möglichkeit mehr gibt. Dann war ich in der Jugendbewegung – bis ich schließlich auswandern konnte.
Es war im März, als Hitler Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen hat. An dem Abend, als die Deutschen einmarschiert sind, hörte ich noch die Rede von Schuschnigg, diese schloss er mit den Worten: "Gott schütze Österreich." Das waren seine letzten Worte, dann wurde die Bundeshymne gespielt und dann war es aus. Mein Vater sagte dann: "Na, was wird jetzt passieren?" Daraufhin sagte meine Mutter: "Du brauchst nicht bekümmert zu sein, wir sind alteingesessene Österreicher. Uns kann nichts passieren." Das hat sie geglaubt bis zur sogenannten "Kristallnacht". Da hat sich alles geändert. Ich sah auf die Straße hinaus, da waren Frauen mit schweren Kübeln, sie wuschen auf Knien die Parolen von den Straßen ab, bei kaltem Wetter. Die guten Nachbarn, die davor alle mit ihnen befreundet waren, standen da und schrien sie an, schlugen sie, stießen ihnen den Kübel um. Es war grauenhaft. An dem Tag, an dem Hitler einmarschiert ist, sind sie alle draußen gestanden und haben gejubelt, vor jedem Haus ist eine riesengroße Fahne heruntergehangen mit einem riesengroßen Hakenkreuz. Das war gut vorbereitet. Die Veränderung von einem Tag auf den anderen, der besten Freunde und Nachbarn, das war erschreckend.
In der "Kristallnacht" klopfte es an unserer Tür. "Aufmachen!", wurde geschrien. Meine Schwester, ihren Mann und ihr kleines, ein paar Monate altes Kind hatte man zuvor aus ihrer Wohnung hinausgeschmissen; wenn irgendjemand eine Wohnung wollte und sie ihm gut gefallen hat, wurden die Leute einfach rausgeschmissen. Seitdem wohnten sie bei uns. Es klopfte also an der Tür, sie schrien: "Stellt euch heraus!" Mein Vater zeigte ihnen seinen Ausweis: "Ich war ein Frontkämpfer, bin schwer verwundet worden!" Da sagten sie: "Mit dem können Sie, Sie wissen schon was tun." Mein Schwager, ein junger, starker Mann von etwa 24 Jahren, schaute auf mich jungen 18-Jährigen und befahl mir, drinnen zu bleiben. Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet, denn meinen Vater und meinen Schwager haben sie im 22. Bezirk in einer Schule in der Staudingergasse eingesperrt. Schon beim Hineingehen haben sie die Leute gepackt und mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. Einer ist tot umgefallen. Mein Vater und mein Schwager sind ein paar Monate dort geblieben. Meinen Schwager haben sie noch schlechter behandelt, weil er jung war. Großteils sind die Menschen im Gefängnis, im Keller der Schule, gestorben.
Dank der zionistischen Jugendbewegung konnte ich im März 1939, noch vor Kriegsausbruch, nach Palästina fliehen und auf der Universität Haifa studieren – als junger Mann, ohne Lebenserfahrung, ohne Geld, ohne alles. So habe ich vier Jahre studiert und den Ingenieurstitel erworben. Es war damals schwer, Arbeit zu finden, denn es war auch in Israel eine schwere Zeit, aber ich habe doch eine gefunden.
Im Juni desselben Jahres kamen sie zu meinen Eltern und sagten: "Verlasst Österreich innerhalb von 24 Stunden oder ihr kommt ins Konzentrationslager." Bis zum letzten Moment mussten alle meine Mutter überzeugen, dass es keinen anderen Ausweg gibt – sie wollte nämlich nicht ohne ihre jüngste Tochter weg. Sie ist dann mit meinem Vater nach Italien, und in Mailand haben sie den ganzen Krieg überdauert. Mein einziger Kontakt zu ihnen war über das Rote Kreuz, ein oder zwei Mal im Jahr eine Karte. Meine ältere Schwester konnte nach Palästina auswandern, der Vater ihres Mannes war bei der zionistischen Bewegung tätig und er verschaffte ihnen ein entsprechendes Zertifikat. Der Erste, der entkam, war ich, die Zweiten meine Eltern, dann meine große Schwester und die Letzte war die kleine Schwester, die im letzten Moment mit Hilfe der Jugend-Alijah, einer jüdischen Organisation, auswandern konnte. So konnten wir alle rechtzeitig aus Österreich fliehen. Wir waren nicht sehr verwöhnt, aber wir waren glücklich, dass wir herausgekommen sind.
Dann habe ich gearbeitet. In der ersten Zeit der Staatsgründung wurden viele neue Siedlungen gegründet, die Bewässerung musste neu aufgebaut werden, ungefähr 300 neue Siedlungen wurden gebaut, jede Siedlung war für ungefähr 100-150 Familien geplant. Das war eine schöne Arbeit. Nach ein paar Jahren bin ich dann zu einer anderen, staatlichen Organisation gewechselt, die am Wasserbau und an der Bewässerung gearbeitet hat, auch in Entwicklungsländern. Dort habe ich bis zu meiner Pensionierung gearbeitet, an großen Projekten, vier Jahre in Afrika, sieben Jahre in Südamerika, vier Jahre in Persien und vier Jahre in Thailand. Jetzt bin ich zuhause in Israel und kann mich etwas ausruhen.
Auf den Namensmauern steht der Name meiner Großmutter, sie ist in Theresienstadt gestorben, sie war schon alt. Meine Mutter hatte noch drei Geschwister, mein Vater noch einen Bruder. Mein Vater wurde im Ersten Weltkrieg verwundet und sein Bruder wurde getötet. Der geliebte Bruder meiner Mutter ist im letzten Kriegsmonat an der italienischen Front gefallen, dann waren sie nur noch zu dritt. Von meiner Familie, die alle jüdisch waren, haben bis auf die Großmutter alle den Krieg überlebt.
Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.
Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich
Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.
Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.