Lauren Jacobs
Ihre Lebensgeschichte bleibt dank der Namensmauern und der darauf eingravierten Namen ihrer Eltern lebendig.
Das Gespräch mit Lauren Jacobs wurde am 9. Juni 2022 in Washington, D.C. geführt.
Lauren Jacobs schließt ihr Medizinstudium derzeit in New York City ab. Ihre Großmutter, Betti Berlad, wurde 1924 in Wien geboren. Gemeinsam mit ihrem Bruder Herman gelang ihr 1939 die Flucht. Ihre unglaubliche Überlebensgeschichte zeugt von Widerstandsfähigkeit, Entschlossenheit und Glauben – und ist ein Zeugnis für ihre persönliche Stärke und Ausdauer sowie für die des jüdischen Volkes.
Ich heiße Lauren Jacobs und ich bin die Enkeltochter von Betti Berlad, einer Holocaust-Überlebenden aus Wien. Sie war überzeugt, dass es die Verantwortung ihrer Kinder und Enkelkinder war, das Prinzip "Tikkun Olam" zu befolgen, die Menschheit mit den eigenen Händen zu heilen. Es war ihr Wille und Traum, dass ihre Söhne, mein Vater und seine beiden Brüder, sowie meine Schwester und ich alle Ärzte werden. Und ich bin stolz, dass ich als angehende Strahlenonkologin ihren Traum jeden Tag erfülle.
Meine Großmutter war eine bemerkenswerte Frau. Sie wurde im November 1924 in Wien als Tochter von Gitel und Julius Berlad in ein liebevolles Elternhaus geboren und wuchs dort mit ihrem älteren Bruder Herman – Tzvi auf Hebräisch – auf. Ich wurde nach ihm Tzviah benannt. Sie lebten gemeinsam mit ihren Großeltern in einer Wohnung im 20. Bezirk. Die Familie hatte ein wunderbar erfülltes und bereicherndes Leben, war kulturell angepasst, betonte aber auch stets die Bedeutung von Religion und Zionismus. Sie erzählte mir von ihren schönsten Erinnerungen. Dazu zählten das Eislaufen auf der Donau, das Begehen des Shabbat, der Besuch der Synagoge sowie der Alltag in Wien, zu dem Klavierunterricht für Betti, Geigenunterricht für Herman ebenso gehörten wie täglicher Hebräisch-Unterricht. Hitler marschierte im März 1938 in Österreich ein. Bettis und Hermans Vater war Buchhalter, er verlor seine Firma, das Lebensmittelgeschäft ihrer Mutter wurde von den Nazis übernommen. Dann wurde meine Großmutter mit der Nachricht von der Schule nach Hause geschickt, dass sie nie mehr zur Schule zurückkommen solle. Als Jüdin wäre sie dort nicht mehr willkommen. Sie war damals 13 Jahre alt. Das Leben, das sie bis dahin gekannt hatten, war vorbei.
Am 9. November 1938 war die "Kristallnacht". Als die Nazis an die Türen klopften und allen befahlen herunterzukommen, riss Bettis Großvater die Mesusa von der Eingangstür ab und trug meiner Großmutter auf, auf sie aufzupassen und niemals zu vergessen, was sie bedeutete. Bis heute ist sie ein Familienerbstück für uns alle. In jener Nacht peinigten die Nazis meine Großmutter, ihre Eltern und Großeltern, zerrten sie zum nächsten Platz, schlugen und erniedrigten sie. Sie befahlen ihnen, auf allen vieren den Boden zu putzen, Toilettenpapier mit der Nase auszurollen, und zündeten die Bärte der älteren Männer an. Bis auf Herman, der noch weiterhin ihren Gewalttaten ausgeliefert war, wurden alle Familienmitglieder nach Hause geschickt. Wie durch ein Wunder schaffte er es als schlanker, großer Sportler, den Nazis zu entkommen und rannte zurück zu ihrem Haus. Der Portier des Gebäudes sah ihn und ließ ihn hinein. Ein paar Minuten später klopfte die SS, die ihn gejagt hatte, an die Tür. Der Portier sagte, dass er "diesen Juden" nicht gesehen habe, und rettete ihm damit letztendlich sein Leben und das unserer Familie. Am nächsten Tag beschloss Herman, dass es höchste Zeit war, Europa zu verlassen. Aus Angst um sein Leben beschloss Herman, in die Schweiz zu fliehen, um dort Zuflucht zu suchen und die Ausreise der restlichen Familie aus Europa zu organisieren. So verließ er Wien mit dem Segen seiner Eltern, seiner Schultasche und seinem Tefillin, den er bei seiner Bar Mitzwa trug. Irgendwie schaffte er es, in die Schweiz in ein sicheres Lager für Männer zu gelangen.
Vor seiner Flucht arbeitete Herman im Lebensmittelgeschäft seiner Großeltern und half seiner Mutter immer, die Früchte aus Fresno, Kalifornien, auszupacken. Monate, bevor Hitler und die Nazis in Österreich an die Macht kamen, fand er in einer Obstkiste ein Stück Papier mit dem Namen eines Mädchens und einer Adresse in Fresno: Alice Springer. Jung und einem Flirt nicht abgeneigt, begann er, mit ihr zu korrespondieren. Alice suchte einen Brieffreund. Sie war 22 und er 18 Jahre alt. Sie schrieben sich monatelang auf Deutsch und bauten, ohne es zu ahnen, eine Beziehung zueinander auf, die ihm letztendlich das Leben rettete.
Nach der "Kristallnacht" schrieb Herman an Alice und flehte sie an, ihm zu helfen, aus Europa zu fliehen. Sie wusste von einem älteren, wohlhabenden wohltätigen Herrn in Fresno und bat ihn um Hilfe. Dieser war zunächst skeptisch und zögerte, komplett fremden Menschen einfach zu helfen. Jedoch stellte sich heraus, dass er einen sehr bekannten Juwelier in Fresno kannte, der wiederum eine Schwester in Wien hatte. Diese war zufälligerweise eine frühere Kundin im Lebensmittelgeschäft der Familie Berlad. Sie mochte Gitel sehr und bürgte daher für die Berlads und somit wurde die Bürgschaftserklärung für unsere Familie ausgestellt.
Schlussendlich gelang es nur Betti und Herman zu flüchten. Nachdem es Herman als erstem gelungen war, verhalf er kurz darauf meiner Großmutter zur Flucht. Sie war gerade einmal 15 Jahre alt, als sie ihren Eltern für immer Lebewohl sagte und Ende 1939 in Genua an Bord des letzten Schiffes ging, das den Atlantik auf legale Weise überquerte. Während der Überfahrt wurde das Schiff mitten in einer Nacht plötzlich von einem deutschen U-Boot gestoppt. Die SS befahl allen, an Deck zu kommen. Sie misshandelten die Passagiere und drohten, das Schiff zu versenken. Sie rissen allen ihren Schmuck vom Leib und nahmen ihnen sämtliche Wertgegenstände ab. Sie rissen auch meiner Großmutter ihre Goldkette vom Hals. Diese fiel samt Anhänger mit Moses und den Zehn Geboten auf den Boden. Meine Großmutter versteckte sie unter ihrem Fuß und hob sie auf, nachdem die Soldaten an ihr vorübergegangen waren. Dieses kleine Schmuckstück ist für unsere Familie ein Glücksbringer von unsagbarem Wert.
Meine Großmutter wurde in über 16 verschiedenen Pflegeheimen untergebracht und landete letztendlich in einem Waisenhaus in San Francisco. Dort lernte sie meinen Großvater kennen, der als Zahnarzt bei der US-Marine arbeitete. Während seines Kriegseinsatzes hielten sie Briefkontakt. Sie heirateten kurz nach seiner Rückkehr im November 1945 und bekamen drei Söhne, die alle nach der Mutter und dem Vater meiner Großmutter benannt wurden.
Herman ließ sich in Los Angeles, Kalifornien, nieder und meine Großeltern in Washington, D.C.. Er wurde, wie sein Vater, Buchhalter und gründete eine Kanzlei in L.A.. Er blieb bis zu seinem Tod eng mit Alice Springer verbunden, die ihm zur Flucht verholfen hatte. Ein bewegendes Ereignis, von dem mir meine Großmutter berichtete: 30 Jahre nach ihrer Ankunft in den USA zeigte ihr Herman während eines Besuches in L.A. seine Schultasche aus Wien und seine Tefillin, und zwar jenes Paar, das er mitgenommen hatte, als er Wien für immer verlassen hatte. Er zeigte ihr ebenfalls die Korrespondenz mit der österreichischen Regierung, aus der hervorging, wo seine Eltern umgekommen waren: in Auschwitz.
Meinen Großeltern, besonders meiner Großmutter, war es am wichtigsten, das Judentum und die Traditionen zu erhalten und den Glauben im Alltag zu pflegen. Sie betonte immer, dass die Reise eines jeden Überlebenden einzigartig und bedeutend war, und dass wir sicherstellen müssten, dass das "Nie mehr wieder" zu einer Realität wird. Die Namensmauern Gedenkstätte ist ein lebendiges Denkmal für all jene, die umgekommen sind. Mögen die Erinnerungen an sie zum Segen für uns alle werden.
Am Israel Chai. (Das Volk Israel lebt.)
Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.
Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich
Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.
Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.