Kurt Yakov Tutter
Ich bin 1942 in Belgien, im Alter von zwölf Jahren, zweimal aus gefährlichen Situationen nur knapp mit dem Leben davongekommen. Demnach wäre mein Name beinahe auf die Mauern eingraviert worden, anstatt dass ich mich um deren Errichtung hätte bemühen können. Jenen, die es nicht geschafft haben, ist meine ständige Arbeit gewidmet.
Der Text wurde von Kurt Yakov Tutter im Oktober 2021 verfasst.
Kurt Yakov Tutter: Aus meinem Leben
Geboren wurde ich in Wien, im Juli 1930. Der Vater stammte aus Galizien, die Mutter aus der Bukowina, eine echte österreichische Herkunft. Wir wohnten im 2. Bezirk in Wien, wo unsere Eltern ein bescheidenes Schulwaren- und Spielzeuggeschäft führten.
Nach dem "Anschluss" im März 1938 kam das nationalsozialistische Regime in Österreich an die Macht. Das Geschäft wurde bald "arisiert" und unsere kleine Wohnung beschlagnahmt. Vater wurde auf der Gasse verhaftet, dann wieder frei gelassen. Im Dezember 1938 ist er illegal nach Belgien geflüchtet, wohin er uns nachzuholen beabsichtigte.
Im Juli 1939 konnten meine Mutter, mein anderthalbjähriges Schwesterl Rita und ich ebenfalls illegal nach Belgien flüchten. Wir waren zeitweilig gerettet, doch war es zu spät, um aus Europa zu fliehen. Bald wurde Belgien von der nationalsozialistischen Macht erobert. Die Deportation der Juden hat dort im Jahr 1942 begonnen.
Eines Nachts, im September 1942, gab es eine Razzia in unserem Wohnviertel in Brüssel. Zwei Wehrmachtssoldaten haben unseren Eltern befohlen: "Packt Eure Koffer, wir holen Euch in 20 Minuten ab." Trotz des Befehls der Soldaten, auch Koffer für die zwei Kinder vorzubereiten, hat die Mutter uns in einem Dachbodenzimmer versteckt und uns mutig das Leben gerettet. Damals war ich zwölf Jahre alt, Rita war fünf. Unsere Eltern wurden nach Auschwitz zu ihrem Tode deportiert.
Am nächsten Tag sind wir, gemäß dem Rat unserer Mutter, zu einem jüdischen Waisenhaus gefahren. Kaum einen Monat später hat die Gestapo alle 70 Kinder und zehn Bedienstete zum Sammellager Mechelen geführt, von wo die Züge nach Auschwitz abfuhren. Königin Elisabeth von Belgien wurde informiert und hat unsere Entlassung ausverhandelt. Bald wurden wir zurück ins Waisenhaus gebracht, wo wir zeitweilig sicher waren.
Das tatkräftige Widerstands-Komitee der belgischen Juden hatte damals eine umfangreiche Initiative begonnen, um jüdische Kinder zu retten. In der Folge wurden meine Schwester und ich bei einer katholischen Familie in Gent untergebracht. Obwohl sie damit ihr Leben riskierten, haben Belgier über 3.000 jüdische Kinder gerettet. Die außergewöhnliche Zivilcourage der Belgier, die unter derselben nationalsozialistischen Herrschaft gelebt haben, war leider in Österreich ganz wenig vorhanden.
Nach dem Ende des Krieges, im Jahr 1947, bin ich nach Kanada emigriert, wo ich mich zwei Jahre dem Studium der Architektur widmete und eine Familie gründete. Ab dem Anfang des ganz neuen Berufsfachs für Computer begann ich eine erfolgreiche Karriere im Design und Management von Computer-Systemen.
Nach einigen Jahren erwarb ich die Funktion des "Director of Computer Systems and Communications Networks" an der Toronto Stock Exchange. Dort habe ich mit einem Team von über 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Informationssystem entwickelt, das die Kurse aller Aktien der Börsen von Toronto und New York 700 kanadischen Stockbrokern in Realtime zur Verfügung stellte. Dies war eines der höchst bewerteten Computerprojekte in Kanada.
Auf einer Reise nach Brüssel im Jahr 1974 konnte ich das kurz zuvor errichtete Mémorial aux Martyrs Juifs de Belgique besuchen. An diesem Ort, unter den 26.000 auf Granittafeln gravierten Namen, waren die Namen meiner Eltern wie auch jene von 800 anderen Österreichern zu finden, die Zuflucht in Belgien gesucht hatten und von dort deportiert wurden.
Im Jahr 2000 habe ich eine Initiativgruppe organisiert. 2006 war ich Mitbegründer des Vereins zur Errichtung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte in Wien. Dem Verein sind angesehene Österreicherinnen und Österreicher beigetreten, die sich für unser Projekt kräftig eingesetzt haben. Dem Verein diene ich ehrenamtlich als Generalsekretär. Die Realisierung der Gedenkstätte wurde ab dem Jahr 2000 zur Hauptbeschäftigung meines Lebens. Damals war ich 70 Jahre alt.
Meine Arbeit für das Projekt kostet mich viel Zeit, durchschnittlich 36 Stunden pro Woche. Dabei bin ich nicht nur Generalsekretär, sondern führe auch das gesamte Sekretariat. Am Design der Gedenkstätte war ich intensiv beteiligt und habe daran ständig mit unserem Architekten Wolfgang Wehofer gearbeitet.
Weiters war ich für die Verhandlungen mit der Stadt Wien und mit der Bundesregierung verantwortlich. Letztendlich hatte ich zudem die Finanzierung des Projekts zu sichern.
Zu Beginn unserer Bemühungen für die Gedenkstätte sind wir auf großes Desinteresse seitens Stadt und Bund gestoßen. In Österreich waren die Behörden seit langen Jahren eher damit beschäftigt, die Gräueltaten der Shoah zu verschleiern und sich selbst als erstes Opfer des Faschismus zu präsentieren. Eine Gedenkstätte für ermordete Juden war daher unerwünscht.
Im Mai 2012 bekamen wir die Zustimmung von der damaligen Vizebürgermeisterin der Stadt Wien, Maria Vassilakou, für die Errichtung der Namensmauern Gedenkstätte und für einen Standort in einem innerstädtischen Park. Doch folgten keine konkreten Taten. Das Projekt würde vielleicht niemals realisiert, fürchtete ich.
Im Jahr 2017 wurden in Österreich Nationalratswahlen abgehalten. Den neuen Bundeskanzler habe ich Anfang 2018 schriftlich um seine Zustimmung zum Gedenkstätten-Projekt ersucht. Termine mit führenden Persönlichkeiten im Bundeskanzleramt und mit dem damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz wurden vereinbart. Bundeskanzler Sebastian Kurz hat entschieden, dass sich die Bundesregierung an der Errichtung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte und an den 5,3 Millionen Euro Gesamtkosten beteiligen wird.
Im Oktober 2018 hat der neue Bürgermeister der Stadt Wien, Michael Ludwig, uns den Ostarrichipark als Standort für die Gedenkstätte vorgeschlagen, ein schöner und höchst geeigneter Ort. Die Umsetzung der Gedenkstätte hat im November 2018 begonnen und wurde im Herbst 2021 vollendet.
Wie vorher erwähnt, bin ich 1942 in Belgien, im Alter von zwölf Jahren, zweimal aus gefährlichen Situationen nur knapp mit dem Leben davongekommen. Demnach wäre mein Name beinahe auf den Mauern graviert worden, anstatt dass ich mich um deren Errichtung bemühen konnte. Denen, die es nicht geschafft haben, ist meine ständige Arbeit gewidmet.
Kurt Yakov Tutter, 20. Oktober 2021
Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.
Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich
Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.
Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.