Kenneth Molkner & Koranee Peppe

Ich würde sehr gerne die wunderschönen Namensmauern besuchen und nach weiteren Verwandten suchen. Sie sind sehr wichtig, weil die Erinnerung an gute Dinge genauso wichtig ist wie die Erinnerung an schlechte Dinge. (Koranee Peppe)

Das Gespräch mit Koranee Peppe wurde am 9. Juni 2022 in Washington, D.C. geführt.

Kenneth Molkner wurde als Kurt Molkner in Wien geboren. Fünf Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges floh seine Familie aus Österreich nach Großbritannien. Seine Mutter konnte die Entlassung des Vaters aus dem KZ Buchenwald erwirken, indem sie im Gegenzug einwilligte, mit ihrem Sohn Österreich zu verlassen. Sechs Monate später ­erhielten sie Visa für die USA. Um die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen zu können, begab sich ­Dr. Molkners Tochter, ­Koranee Peppe, auf die Suche nach Dokumenten über ihre Familie, wodurch sie auch vieles über ihre Familiengeschichte in Erfahrung bringen konnte. Ihr Wunsch ist es, die Namens­mauern zu besuchen und der ermordeten Familienmitglieder zu ­gedenken.

Porträt Kenneth Molkner
Foto: Kenneth Molkner, privat

Dr. Kenneth Molkner: 
Als ich vier Jahre alt war, habe ich den Namen Kenneth gewählt. Schon damals wollte ich keinen deutschen Namen haben. Ich bin 1936 in Wien geboren, zwei Tage vor meinem zweiten Geburtstag erfolgte der "Anschluss" und mir wurde Folgendes erzählt: Es waren Menschen auf den Straßen, die "Heil Hitler" riefen. Ich hatte in dem Alter bereits angefangen zu sprechen, ging zum Fenster und redete es ihnen nach.

Wir hatten ein Kindermädchen. Als es für sogenannte Arier nicht mehr erlaubt war, für Jüdinnen und Juden zu arbeiten, brachte sie uns weiterhin heimlich Essen und kümmerte sich um mich. Sie riskierte ihr Leben, um unseres zu retten. Ich bereue es sehr, sie nicht getroffen zu haben, als wir 1966 nach Österreich gereist sind. Nach dem Krieg schickte meine Mutter ihr bis zu ihrem Lebensende Geld.

Mein Vater hatte ungefähr zehn Jahre lang ein Schmuckgeschäft in der Wiedner Hauptstraße. Er arbeitete selbst mit Gold und konnte Schmuck herstellen. Meine Mutter unterstützte ihn im Geschäft, deshalb hatten wir ein Kindermädchen. Eines Tages stürmte ein Nazi herein und mein Vater wurde in ein Konzentrationslager gebracht. Meine Mutter war fest entschlossen, ihr Hab und Gut zu verteidigen, doch gegen einen Nazi war sie machtlos. Sie wurde hinausgeworfen, alle Besitztümer im Geschäft wurden beschlagnahmt. Mein Vater sprach kaum über das, was er erlebt hatte, aber meine Mutter erzählte mir Dinge, die er ihr erzählt hatte. Eine schreckliche Geschichte kenne ich. Ein Nazi beleidigte einst meinen Vater: "Du dreckiger Jude, wie viele Arier hast du betrogen?" Er bestritt das natürlich und bettelte und flehte den Soldat an, er habe eine Frau und ein Baby. Sie sagten ihm, er solle um sein Leben laufen, während sie auf ihn schossen. Es war schrecklich und hat ihn furchtbar traumatisiert. Auch wenn Buchenwald anfangs "nur" ein Arbeitslager war und zu der Zeit keine Massenhinrichtungen stattfanden, wurden Jüdinnen und Juden um ihn herum gefoltert, ermordet oder sie verhungerten. Das hat ihn für den Rest seines Lebens gezeichnet.

Meine Mutter musste zwei Dinge zugleich tun: Zunächst beantragte sie ein Visum, um Österreich zu verlassen, etwa mit dem Schiff nach Shanghai. Schlussendlich gelang es ihr, die nötigen Dokumente für eine Ausreise nach Großbritannien zu organisieren. Andererseits musste sie meinen Vater aus dem Konzentrationslager herausbekommen. Wir haben Dokumente, die belegen, welche Gegenstände er bei sich hatte, als er festgenommen wurde, und die letztendlich von der Gestapo beschlagnahmt wurden. Zuerst war er in Dachau inhaftiert, dann in Buchenwald. Er wurde entlassen, als wir bestätigen konnten, dass wir nach Frankreich eingereist waren. Mein Vater folgte uns einige Tage später nach Großbritannien. Wir flohen in der letzten Juliwoche – fünf Wochen später ist der Krieg ausgebrochen. Wie viele andere, die geflohen sind, haben wir Verwandte in den USA kontaktiert. Das Affidavit wurde von Cousins ­meiner Mutter, die in New York lebten, zur Verfügung gestellt, Altman steht in den Dokumenten. Die zwei Brüder meines Vaters waren bereits vor ihm in den Staaten, aber sie konnten uns nicht weiterhelfen, da sie selbst erst kürzlich dort angekommen und keine US-Staatsbürger waren. Es war nicht einfach, ein Visum für die Einreise zu bekommen, es war nur mit einem Affidavit eines amerikanischen Staatsbürgers möglich. Der Bruder meiner Mutter, mein Onkel, seine Frau und sein Sohn sind kurz vor uns geflohen – sie wurden über die Grenze nach Belgien geschmuggelt, weil er keine Papiere hatte. Er lebte im flämischen Teil, in Antwerpen. Meine Tante väterlicherseits ist nach dem "Anschluss" gestorben. Meine Großeltern väterlicherseits sind beide in Auschwitz ermordet worden.

Wir blieben sechs Monate lang in Großbritannien. Am 13. März 1940 erreichten wir schließlich die USA – einen Tag vor meinem vierten Geburtstag. 

Porträt Koranee Peppe
Foto: Koranee Peppe, privat

Tochter Koranee Peppe: 
Ich durfte nur meine Großmutter kennenlernen, meinen Großvater leider nicht. Wir nannten sie immer Grandma Betty, aber ihr richtiger Name war Judith und ich habe meine Tochter Julia nach ihr benannt. Sie war das Oberhaupt unserer Familie und unsere Verbindung zu allem Jüdischen und Österreichischen. Wir aßen freitags bei ihr zu Shabbat und sie kochte uns Wiener Schnitzel, Gurkensalat und machte Liptauer. Ich koche diese Gerichte heute noch gerne. Meine Großmutter war nicht nur eine gute Köchin, sie war auch eine unglaubliche Frau. Mein Großvater ist mit 55 Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben, aber meine Großmutter arbeitete weiter – obwohl sie fast getötet worden wäre, als ihr Schmuckgeschäft in Atlanta ausgeraubt wurde. Ihr Uhrmacher wurde getötet. Sie schaffte es, das Schmuckgeschäft weiterzuführen. Sie hatte ein sehr ungewöhnliches und schweres Leben, und dennoch hat sie unsere Familie zusammengehalten und die Traditionen aufrechterhalten. Wir sind so froh, sie in unserem Leben gehabt zu haben. Jeder von uns hat sich von ihr so geliebt gefühlt.

Erst mit 70 Jahren hat meine Großmutter erfahren, dass ihr Bruder, Menachem Mendel, noch lebt – bis dahin dachte sie, dass er im Holocaust ermordet ­worden sei. Sie besuchte ihn daraufhin in Wien in seinem Altersheim und kümmerte sich von da an finanziell um ihn. Er hat ihr eine Bernsteinkette gegeben, die meine Familie noch immer hat. Sie hatte selbst nie viel Schmuck, aber besonders wichtig waren ihr diese Bernsteinkette und ein SS-Anstecker. Ich glaube, dass er der Person gehört hat, die ihr geholfen hat, ihren Mann aus dem Konzentrationslager zu befreien. Sie hat uns die Geschichte nie erzählt, wir wissen nur, dass ihr der Anstecker sehr wichtig war, so ungewöhnlich diese Begebenheit auch sein mag.

Ein anderer Bruder meiner Großmutter diente im Krieg in der britischen Armee, zuerst in Dünkirchen und dann in der Normandie. Er änderte seinen Nachnamen in Gordon, um nicht als Jude erkannt zu werden, falls er von den Deutschen gefangen ­genommen werden würde.

Die Großeltern meines Vaters mütterlicherseits starben während des Krieges in Frankreich. Seine Großmutter hatte mehrere Schlaganfälle und konnte sich kaum mehr bewegen, geschweige denn sich um sich selbst kümmern. Sein Großvater kümmerte sich bis zu seinem Tod um den Haushalt, wenige Monate später starb auch seine Großmutter. Die Nazis hatten sie nicht mitgenommen, weil sie schon viel zu alt waren. Wir haben Briefe und Fotos, wo sie begraben wurden – meine Großmutter hatte sich darum gekümmert, dass die beiden auf einem jüdischen Friedhof in Frankreich bestattet werden.

Meine Familiengeschichte wurde mir nicht in geordneter Form übermittelt. Als in Österreich während der COVID-19-Pandemie im September 2020 der erleichterte Zugang zur Staatsbürgerschaft für Nach­kommen von NS-Opfern in Kraft trat, habe ich angefangen, nach Dokumenten zu suchen. Meine Mutter hatte mir diese Tasche mit Fotoalben, Briefen und Dokumenten gegeben, die bereits auseinander­fielen und von Schimmel überzogen waren. Ich fand Familiendokumente, die meine Großmutter aus Österreich mitgenommen hatte, ihr Testament, welches mein ältester Bruder auf Video aufgenommen hatte, und eine Niederschrift über die Flucht meiner Familie aus Wien, verfasst von meinem Cousin. Als ich all diese Unterlagen gesichtet hatte, fand ich auch alle Dokumente, die notwendig waren, um für die österreichische Staatsbürgerschaft anzusuchen. Es war alles ein ziemliches Durcheinander. Ich versuche, alles zu digitalisieren, um es zu erhalten. Es ist teilweise auch sehr schwer, die Schrift zu entziffern – jede Briefseite wurde möglichst gut ausgenutzt und bis in die Ecken beschrieben. Glücklicherweise hat mein Vater ein sehr gutes Gedächtnis und kann mir helfen, viele der Lücken zu füllen.

Ich würde Wien gerne besuchen und die Namensmauern sehen.

Foto: Kenneth und Vonny Molkner
Kenneth und Vonny Molkner. Foto: Dr. Kenneth Molkner, privat
Gruppenfoto: Kenneth und Vonny Molkner mit ihrer Tochter Koranee, ihrem Schwiegersohn Jim Peppe und den Enkelkindern Julia und Jake
Kenneth und Vonny Molkner mit ihrer Tochter Koranee, ihrem Schwiegersohn Jim Peppe und den Enkelkindern Julia und Jake. Foto: Dr. Kenneth Molkner, privat
Ich war immer sehr interessiert an unserer Familiengeschichte und an Ahnenforschung. Jahrelang habe ich mit Hilfe des Holocaust Museums Yad Vashem in Israel recherchiert und es ist sehr schwierig, auch aufgrund der unterschiedlichen Familiennamen unserer Vorfahren, Mädchennamen, Hochzeiten usw., alle zu identifizieren. Ich würde sehr gerne die wunderschönen Namensmauern besuchen und nach weiteren Verwandten suchen. Sie sind sehr wichtig, weil die Erinnerung an gute Dinge genauso wichtig ist wie die Erinnerung an schlechte Dinge. Wichtig ist sie auch deshalb, damit ein Land als Ganzes und jeder Einzelne, dem das passiert ist, vorankommen kann. Mein Bruder will zum Beispiel keine österreichische Staatsbürgerschaft, er denkt, ich wäre verrückt geworden. Dennoch hat er die Sprache gelernt und spricht fließend Deutsch, was in den USA heute schwerer ist als vor dem Ersten Weltkrieg. Es ist ein Teil von uns. Die Akzeptanz der Shoah Namensmauern zeigt, dass sich die Zeiten geändert haben. Antisemitismus gibt es immer noch überall auf der Welt, aber Österreich gibt sich wirklich Mühe, den Menschen zu zeigen, was passiert ist und diese Menschen vor den Vorhang zu holen. Österreich zeigt, was passieren kann, wenn Hass und Macht aufeinandertreffen und welche furchtbaren Konsequenzen das hat. Es ist wichtig, zu wissen, was man tun kann, um die Lage für Menschen zu verbessern, die an anderen Orten noch leiden, und um sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passiert. (Koranee Peppe)

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte