Kendall Litton
Das war das letzte Mal, dass meine Großmutter ihren Vater sah.
Das Gespräch mit Kendall Litton wurde am 7. Juni 2022 in Washington, D.C. geführt.
Kendall Litton lebt in Washington. Ihre Großmutter war ursprünglich Wienerin. Sie kam Ende der 1940er-Jahre in die USA, um ein neues Leben zu beginnen. Seither lebt die Familie im Bundesstaat Virginia.
Meine Großmutter – oder auch "Omi", wie wir sie nannten – war Österreicherin. Mein Urgroßvater, Moritz Fischer, war Jude. Er wurde 1891 in Bratislava geboren, wuchs jedoch in Wien auf. Meine Großmutter war väterlicherseits jüdischer Abstammung. Sie wurde im Alter von sechs oder sieben Jahren in einer protestantischen Kirche getauft, ähnlich wie ihre Mutter.
Mein Urgroßvater Moritz Fischer hatte ein interessantes Leben. Er war nie extrem religiös und praktizierte seinen Glauben auch nicht. Mit der Heirat einer Protestantin dachte er, ihm würde nichts passieren und er sei sicher. 1938 musste er jedoch als Jude seinen Besitz offenlegen und wurde infolgedessen Anfang 1939 von der Gestapo verhaftet. Das war das letzte Mal, dass meine Großmutter ihren Vater sah. Sie beschrieb ihn immer als einen sehr lieben, gütigen und eher zurückhaltenden Mann, der auch etwas gutgläubig war, wenn es um sein eigenes Schicksal und seine Zukunft ging. Er konnte einfach nicht verstehen, warum ihn jemand behelligen sollte. Nachdem er verhaftet worden war, konnte ihn meine Urgroßmutter mit Nahrung und Kleidung versorgen. Nach einer kurzen Inhaftierung wurde er, unter der Bedingung, Österreich sofort zu verlassen, freigelassen. Er floh zunächst nach Italien, dann weiter nach Frankreich, wo er sich von 1939 bis 1942 aufhielt. Die Nachrichten meines Urgroßvaters waren spärlich und kryptisch. Sie wurden zensiert und so stand in den meisten Briefen nur: "Ich denke an Euch, ich vermisse Euch", aber nichts über den genauen Aufenthaltsort. Eines Tages wurde er festgenommen und nach Drancy in ein Internierungslager gebracht. Am 25. August 1942 kam er schließlich nach Auschwitz, wo er, zusammen mit den meisten seines Konvois, vergast wurde.
Der Logik der Behörden zufolge hatte meine Großmutter jüdisches Blut. Sie wurde in der Schule in eine gemischte Klasse geschickt, wo sie mit anderen Kindern, die jüdische Vorfahren hatten, unterrichtet wurde. Eines Tages musste sie ihren Stammbaum in die Schule mitnehmen. Nachdem mein Urgroßvater Österreich verlassen musste, zwangen die Behörden meine Urgroßmutter, die Scheidung einzureichen. Sie musste das tun, damit sie und meine Großmutter überleben konnten, auch wenn sie den bloßen Gedanken daran verachtete. Nachdem ihr jedoch gedroht worden war, alles zu verlieren – ihre Arbeit, ihre Wohnung – blieb ihr nichts anderes übrig. Die nächsten Jahre waren für meine Großmutter ziemlich hart. Sie konnte Wien nicht verlassen, konnte aber auch nicht studieren, wie sie es sich gewünscht hätte. Dann wurde auch noch ihre Wohnung durch eine Bombe, die von den Amerikanern abgeworfen wurde, zerstört. Sie hatten nichts mehr. Meine Großmutter blieb während eines Teils der sowjetischen Besatzungszeit noch in Wien, was auch eine harte Zeit war, und kam letztendlich im Jahr 1947 in die USA.
Die feierliche Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte war für mich unglaublich berührend, denn der Name meines Urgroßvaters Moritz Fischer findet sich dort. Ich denke, meine Großmutter wäre sehr beeindruckt davon, wie Österreich heute mit seiner Vergangenheit umgeht und die Opfer mit dieser Gedenkstätte würdigt. Diese Menschen hatten keine Ruhestätten. Ich denke, die Errichtung einer Mauer mit ihren Namen in ihrer Heimat ist eine längst überfällige, jedoch angemessene Art der Würdigung dieser Menschen. Meine Großmutter hätte es sehr berührt, einen Ort wie diesen zu haben, um ihres Vater zu gedenken.
Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.
Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich
Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.
Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.