Irene Wittig

Porträt Irene Wittig
Foto: BKA/Florian Schrötter
Ich hörte mir immer diese Geschichten von Menschen an, die vertrieben wurden: die zwar überlebt, aber Verwandte verloren haben und Familienangehörige zurücklassen mussten.

Das Gespräch mit Irene Wittig wurde am 8. Juni 2022 in Washington, D.C. geführt.

Irene Wittigs Familie stammt aus Wien. Ihre Mutter konnte sich über Italien und Argentinien in die Vereinigten Staaten retten. Auch andere Mitglieder ihrer Familie traten die Flucht an, aber nicht alle hatten Glück.

Ich wurde in Rom geboren, zehn Tage nach der ­Befreiung der Stadt durch die Alliierten. Meine Mutter war aus Wien, so wie ihre ganze Familie. Mein Großvater war jüdisch und meine Großmutter katholisch. Meine Mutter und ihr eineinhalb Jahre jüngerer Bruder studierten beide am Wiener Konservatorium. Er war Pianist und sie Tänzerin und Sängerin. Nach dem "Anschluss" wurden beide vom Konservatorium ausgeschlossen, da sie halb-jüdisch waren. Zu diesem Zeitpunkt traf meine Mutter jemanden, der bereits in Dachau interniert gewesen war und erzählte zuhause von dessen schrecklichen Erfahrungen dort. Niemand glaubte ihm außer meine Mutter. Sie wusste nun, dass schwierige Zeiten auf sie zukommen. So schloss sie sich einer italienischen Tanzgruppe an und ging nach Italien. Ihr Bruder blieb in Österreich. Nach dem "Anschluss" schaffte er es irgendwie, sich für einen ­Klavier-Wettbewerb in Belgien zu bewerben und dorthin eingeladen zu werden. Als er jedoch dort ankam, wollten sie ihn nicht mehr spielen lassen, da er für sie offiziell Deutscher war. Daher flüchtete er nach Frankreich und blieb eine Zeit lang in Paris.

Meine Mutter zog in Italien in eine Pension. Sie hatte Glück und empfand die Italiener als sehr nette und hilfsbereite Menschen. Sonntags kamen Priester, Mönche und Nonnen in die Pension zum Frühstück. Wie sich herausstellte, waren sie alle Juden, die von den unterschiedlichen Kirchen versteckt wurden. Umgeben von diesen zuvorkommenden Menschen, fühlten sich dort alle beschützt.

In Wien hatte mein Großvater ein Bekleidungsgeschäft am Kohlmarkt. Er befand sich nach dem "Anschluss" geschäftlich in der Schweiz und suchte dort um Asyl an, aber es wurde ihm verwehrt. So floh auch er nach Frankreich. Er sprach fließend ­Französisch, deshalb war es für ihn nicht schwer, sich dort zurecht zu finden. Er wurde zwar einmal festgenommen, da er falsche Papiere hatte, schaffte es jedoch, wieder freizukommen und wurde bis zum Kriegsende in Nizza von einem seiner Kunden ­versteckt.

Meine Großmutter hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits von meinem Großvater scheiden lassen und einen anderen jüdischen Mann geheiratet, dessen Vorfahren aus Russland kamen. So erhielten sie die Möglichkeit, sich in die USA zu retten.

Der Bruder meiner Mutter erhielt ebenso ein Visum, um in den USA zu studieren.

Meine Mutter heiratete nach dem Krieg einen ­Deutschen. ­Gemeinsam emigrierten wir nach ­Argentinien und später in die USA. Obwohl die ­meisten aus meiner Familie es irgendwie schafften zu überleben, wurde die Familie nie wieder vereint.

Porträtfoto: Gertrud Grünbaum Ludwig
Meine Mutter, Gertrud (Trude) Grünbaum Ludwig, konnte sich zunächst in Italien in Sicherheit bringen. Sie emigrierte 1948 nach Argentinien und 1951 in die USA. Foto: Irene Wittig, privat

Der Bruder meiner Mutter hatte die Wahl: Er konnte in die Armee eintreten oder er würde zurückgeschickt werden, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Also wurde er Soldat und wurde im Camp Ritchie ausgebildet. Nachdem mein Onkel Deutsch und Französisch sprach, wurde er zu einem sogenannten "Ritchie-Boy" ausgebildet. Er wurde nach Europa geschickt, um Verhöre durchzuführen. Er war in Deutschland und in Frankreich, doch eine Woche vor seiner geplanten Rückkehr in die USA verschwand er. Sechs Monate später wurde sein Körper am Rande einer Klippe in einer Schlucht gefunden. Die Akten zu diesem Vorfall wurden sehr lange unter Verschluss gehalten. Wir wissen noch immer nicht genau, was damals wirklich vorgefallen ist. Meine Familie hat diese Tragödie nie überwunden. Er war so talentiert und er war der ­einzige Bruder und einzige Sohn in der Familie.

Ich bin in New York aufgewachsen. Die Upper West Side war voll von Schicksalen und Geschichten wie dieser. Ich hörte mir immer diese Geschichten von Menschen an, die vertrieben wurden, die zwar überlebt, aber Verwandte verloren haben und Familienangehörige zurücklassen mussten.

Otto Karl ­Grünbaum vor einem Brunnen
Mein Onkel und Trudes Bruder, Otto Karl ­Grünbaum (später Gruenbaum), war ein viel­versprechender klassischer Pianist. Er emigrierte in die USA und diente in der US-Armee. Er wurde im Camp Ritchie in nachrichtendienstlichen Methoden und Verhörtechniken ausgebildet. Er diente in Frankreich und Deutschland, überlebte den Krieg, verschwand aber unter mysteriösen Umständen und starb eine Woche vor seiner geplanten Rückkehr nach Hause. Foto: Irene Wittig, privat
Porträtfoto: Otto Grünbaum
Mein Großvater, Otto Grünbaum, Besitzer der Firma Grünbaum & Co. am Kohlmarkt 2, Wien flüchtete 1938 nach Frankreich. Foto: Irene Wittig, privat
Porträtfoto: Melanie Wöhrer Grünbaum
Meine Großmutter, Melanie Wöhrer Grünbaum (später Jellinek), emigrierte 1940 in die USA. Foto: Irene Wittig, privat

Mein Großvater besuchte Wien nie wieder. Meine Großmutter reiste einmal nach Wien, um ihre Schwester zu besuchen. Meine Mutter verließ Wien so früh, dass sie noch gute Erinnerungen an die Musik, die Cafés und die Oper hatte. Aber bei ihren Besuchen musste sie sich jedes Mal anhören, wie glücklich sie sich schätzen konnte, aus Wien ­geflüchtet zu sein, während alle anderen, die in Wien hatten bleiben müssen, so sehr leiden mussten. Diese Bemerkungen kränkten meine Mutter sehr. Sie hatte ihren Bruder verloren und sie war nicht freiwillig ­gegangen, sie musste flüchten, um ihr Leben zu retten – das ist kein Spaß und auch kein Glück.

Porträtfoto: Helene Melanie Lebel
Helene Melanie Lebel, die Nichte meiner Großmutter, wurde 1940 in Brandenburg, im Rahmen der "Euthanasie Aktion T-4", vergast. Foto: Irene Wittig, privat
Auf der Namensmauern Gedenkstätte findet sich der Name der Cousine meiner Mutter, Helene Lebel. Sie war ein Opfer der "Euthanasie". Österreich war bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit langsam, vor allem aus Sicht jener Überlebenden, die damals Kinder waren. Ich denke, es braucht drei Generationen, damit sich etwas anfängt zu ändern. Die erste Generation vertritt den Standpunkt: "Ich weiß nichts." Die zweite Generation meint, vielleicht aus Treue zu den Eltern: "Sie wussten von gar nichts." Oder: "Sie hatten keine Wahl." Die dritte Generation hat die Chance, ehrlich mit dem Holocaust umzugehen. Es muss eine ehrliche Auseinandersetzung über jene Menschen geben, die gelitten haben, die ihre Lieben und ihre Vergangenheit verloren haben.

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte