Karen Green & Will Yetvin

Porträt Will Yetvin (links) und Karen Green (rechts)
Foto: BKA/Florian Schrötter
Erst als meine Mutter um Reparationszahlungen angesucht hatte, erzählte sie mir mehr von ­ihrer Geschichte.

Das Gespräch mit Karen Green & Will Yetvin wurde am 8. Juni 2022 in Washington, D.C. geführt.

Karen Greens Großeltern verließen Wien gemeinsam mit ihrer Mutter im Jahr 1938. Ihre Urgroßeltern wurden in Sobibór ermordet. Die Familie fand ihren Zufluchtsort nach langer Reise in den USA.

Mein Großvater, Ferdinand Röder, dachte, er wäre ­sicher, obwohl er Jude war. Schließlich war er im Ersten Weltkrieg Offizier gewesen. Er war Arzt und dachte, seine ­Loyalität zum Staat wäre genug. Aber bald realisierte er, dass dem nicht so war. Er begann früh, seine Optionen auszuloten. Er ­ging zu mehreren Botschaften und versuchte 1938, noch vor der ­"Kristallnacht", nach Paraguay oder London zu flüchten. Er schrieb seinen Freunden dort Briefe. Schlussendlich konnten mein Großvater Ferdinand, seine Frau Anna Rezek und meine Mutter Österreich verlassen und gelangten nach Zürich. Meine Rezek-Urgroßeltern hatten einen großen Gutshof in Raabs an der Thaya. Meine Großeltern wollten sie davon überzeugen, Österreich zu verlassen, jedoch fühlten sie sich zu alt, um sich anderswo ein neues Leben aufzubauen. Leider wurde als erstes ihr Besitz in Raabs beschlagnahmt, daher flüchteten sie in die frühere Wohnung ihrer Tochter Anna und ihres Schwiegersohns Ferdinand nach Wien in der Pestalozzi­gasse. Sie blieben die meiste Zeit während des Kriegs in der Wohnung, wurden jedoch kurz vor Kriegsende nach Sobibór deportiert und ermordet.

Meine Großeltern waren der Familiengeschichte zufolge Zeugen, als Hitler 1938 an ihrer Wohnung vorbeimarschierte, um eine Rede zu halten. Das war der Zeitpunkt, als sie realisierten, dass es für Juden nicht sicher war, in Wien oder gar Österreich zu bleiben. Also flohen sie über Zürich nach Frankreich, um dort Kontakte ausfindig zu machen, die ihnen eine Weiterreise in die Vereinigten Staaten ermöglichen konnten.

Nachdem sie Zürich verlassen hatten, reisten sie zu einem Bauernhof in der Nähe von Bordeaux, auf dem mein Großonkel arbeitete. Er war ebenso aus Österreich geflüchtet. Sie blieben einige Wochen bei ihm in einem Schuppen auf dem Bauernhof, während sie überlegten, was sie als nächstes tun würden. Dann fuhren sie zu einem jüdischen Altersheim in Bordeaux, wo mein Großvater wieder die Möglichkeit hatte, als Arzt tätig zu sein. Sie blieben dort für weitere sechs Monate, bis sie 1939 ein Visum für die USA erhielten und nach New York gingen. Kurz nach ihrer Abreise in Richtung USA drangen die Nazis in das Altenheim ein und töteten ein Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner.

Ihr Leben in New York war nicht leicht, aber sie waren froh, überlebt zu haben. In Wien waren sie eine sehr wohlhabende und gebildete Familie gewesen, die der sogenannten oberen Mittelschicht angehörte. Als Flüchtlinge gingen sie aber durch eine harte Zeit. Mein Großvater musste seine medizinischen Fachprüfungen nochmals ablegen, um als Arzt in den USA tätig sein zu können. Nachdem er mehrmals scheiterte, schaffte er es schließlich und bestand die Prüfungen. Meine Mutter war zehn Jahre alt, als sie in New York ankamen. Sie besuchte bis zum Alter von 18 Jahren sechs unterschiedliche ­Schulen, weil meine Großeltern so oft umziehen mussten. Sie war dennoch erfolgreich, schloss die Schule ab und begann zu studieren. Sie lernte sehr schnell Englisch und war eine der besten Schülerinnen an der Julia Richman High School. Sie bekam sogar ein Stipendium für die Cornell University, konnte sich jedoch das Studentenzimmer dort nicht leisten. Daher studierte sie am Brooklyn College, wo sie ihren zukünftigen Ehemann, meinen Vater, kennenlernte. Meine Mutter, Marie Röder Green, arbeitete ziel­strebig auf ihr Doktorat in Biochemie und eine Karriere auf diesem Gebiet hin.

Stammbaum der Familie Rezek, nach einer Zeichnung von Karen Green
Stammbaum der Familie Rezek, nach einer Zeichnung von Karen Green. Foto: Karen Green, privat
Gruppenfoto: Familie Rezek
Familie Rezek, Gutsbesitzer in Pfaffenschlag bis zur ­Enteignung im Jahre 1938; 1. Reihe von links: Frau Regina Rezek, ihre Enkelin Marie Charlotte Röder, Herr Josef Rezek; 2. Reihe von links: Sohn Julius, Tochter Anna, Tochter Martha, und Marthas Ehemann Arthur Munk Foto: Karen Green, privat
Foto: Gutshof in Pfaffenschlag vor 1938
Gutshof in Pfaffenschlag vor 1938 Foto: Karen Green, privat

Mit Wien verband meine Mutter nur negative Erinnerungen. Sie wollte nicht nur nicht mehr zurück, sie sprach auch nie viel darüber. In den 1990er-Jahren beschlossen meine Mutter und mein Vater jedoch, Wien zu besuchen. Aber auch danach hatte sie noch gemischte Gefühle. Österreich war sehr langsam bei den Reparationszahlungen. Sie war weit über 70, als sie endlich als entschädigungsberechtigt galt. Der Prozess war sehr anstrengend und dauerte mehrere Jahre.

Erst als meine Mutter um die Reparationszahlungen angesucht hatte, erzählte sie mir mehr ­von ihrer Geschichte.

Ich war sehr interessiert an der Geschichte meiner ­Familie und begann selbst zu recherchieren. ­Online fand ich Artikel von Fritz Kadernoschka aus den ­Blättern für Ortsgeschichte von Ludweis-Aigen über das Grundstück meiner Urgroßeltern in Pfaffenschlag und kontaktierte ihn. Wir planten daraufhin mit der Familie meines Bruders eine Reise. Wir starteten in Wien, gingen zur Pestalozzigasse, von wo aus meine ­Urgroßeltern deportiert worden waren. Danach fuhren wir nach Raabs an der Thaya, was eine außergewöhnliche Erfahrung war. Als die Nazis in Österreich einmarschiert waren, teilten sie das Anwesen meines Urgroßvaters und gaben es Österreichern, die Christen waren. Auch sie waren von Zwangs­maß­nahmen der Nazis betroffen. Sie wurden von ihren Höfen auf das enteignete Anwesen meiner Urgroßeltern vertrieben, damit ein Truppenübungsplatz in Döllersheim errichtet werden konnte. Wir bekamen bei unseren Nachforschungen dazu von den ­Bewohnerinnen und Bewohnern vor Ort sehr viel Hilfe. Für uns als Nachkommen von Flüchtlingen beschränkte sich unsere Geschichte auf die wenigen Erinnerungen, die uns erzählt wurden. Nun hießen uns die Englischlehrerin Ulrike Gutkas und die Ahnenforscherin Christa Stallecker willkommen und halfen uns, unsere Familiengeschichte bis ins 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Sie unterstützten uns dabei, unsere Familiengeschichte zu erforschen, und sind zu guten Freunden geworden. So haben wir auch unseren Beitrag zum Buch "Jüdische Familien im Waldviertel" von Friedrich Polleroß geleistet.

Will Yetvin, Karen Greens Sohn, ergänzt die Erklärungen seiner Mutter aus seiner Perspektive: Unsere Freunde aus Raabs an der Thaya haben die Namensmauern Gedenkstätte besucht und uns Fotos von den Namen meiner Vorfahren geschickt. Die Namensmauern zu sehen, würde mir sehr viel bedeuten und ich hoffe, bald nach Wien zurückkommen zu können, um sie zu sehen.

Reisepass von Anna Röder der einen Monat vor ihrer Flucht in Wien ausgestellt wurde.
Der Reisepass meiner Großmutter Anna Röder, der in Wien einen Monat vor ihrer Flucht ausgestellt wurde. Rechts in der Rubrik "Kinder" ist der Name meiner Mutter vermerkt. Foto: Karen Green, privat
Der österreichische Pass von Marie Charlotte Röder, ausgestellt vor dem Krieg
Der österreichische Pass meiner Mutter Marie Charlotte Röder, ausgestellt vor dem Krieg. Foto: Karen Green, privat
Einbürgerungsbescheid von Ferdinand Röder der 1944 US-Bürger wurde.
Einbürgerungsbescheid meines Großvaters Ferdinand Röder. Er wurde 1944 US-Bürger. Foto: Karen Green, privat
Für mich ist die Mauer Teil unseres Vermächtnisses, Teil der Wiedergutmachung und Teil unseres Heilungsprozesses. Die Shoah­ Namensmauern Gedenkstätte, aber auch dieses Buch, wird den ­Menschen zeigen, dass sie sich an all diese Geschehnisse erinnern müssen. Der Holocaust und der Zweite Weltkrieg sind nicht Geschichten aus einer ­fernen Vergangenheit. Meine Großmutter war eine Überlebende. Sie ist erst vor Kurzem verstorben. Diese historischen Geschehnisse bleiben eng verstrickt mit der Gegenwart und sind sozu­sagen in die Strukturen unserer ­Gesellschaft eingebettet. Es ist daher ungemein wichtig, Gedenkstätten wie diese zu haben, um dies sichtbar zu machen. Und es ist auch sehr wichtig, zu wissen, wo man herkommt und dass man mit Menschen auf der ganzen Welt verbunden ist.

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte