Helga Feldner-Busztin

Porträt Helga Feldner-Busztin
Foto: BKA/Dragan Tatic
Ihr müsst augenblicklich die Schule verlassen. Wir können hier keine Juden dulden.

Das Gespräch mit Helga Feldner-Busztin wurde am 10. März 2022 in Wien geführt.

Helga Feldner-Busztin, geborene Pollak, wurde 1929 in Wien geboren. 1938 ist ihr Vater verhaftet und zuerst ins KZ Buchenwald, dann in ein Lager in Italien und zuletzt ins KZ Auschwitz gebracht worden, wo er knapp dem Tod entkommen ist. Helga war gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Elisabeth von 1943 bis zur Befreiung im KZ Theresienstadt.

Mein Vater war Lungenfacharzt und meine Mutter eine Offiziers-Tochter. Mein Vater war jüdisch, aber liberal, also nicht besonders fromm. Meine Mutter war evangelisch. Sie hat nicht gewusst, dass ihre Mutter eine Jüdin war. Die 1920er-Jahre waren sehr schlechte Zeiten.

Ich war ein außerordentlich glückliches Kind, denn das, was ich nicht gehabt habe, hat mir nicht ­gefehlt. Ich habe Englisch gelernt, habe eine Klavierlehrerin gehabt, war in einer Tanzschule und auf dem ­Konservatorium. Ich wurde sehr gefördert. Ich ging in eine gewöhnliche Volksschule im 5. Bezirk, wir waren nur zwei jüdische Kinder. Ich bin dort sehr gerne hingegangen. Im Jahr 1936 ist meine ­Schwester Elisabeth auf die Welt gekommen. Ich habe zwar mitbekommen, dass etwas in der Gesellschaft nicht stimmt, aber so genau weiß man das mit neun Jahren noch nicht. Wir sind beim Radio gesessen und meine Eltern haben geweint und ich höre jetzt noch Schuschnigg sagen "Gott schütze Österreich". ­Überall auf dem Trottoir waren Hakenkreuze und Kruckenkreuze. Kurz nach dem "Anschluss" erlebte ich mein erstes Trauma. Am ersten Schultag in der 3. Klasse Volksschule ist der Direktor in die ­Schulklasse gekommen, ausgestattet mit einem großen Parteiabzeichen und hat gesagt: "Die Pollak und die Kammermann sollen herauskommen. Ihr müsst augenblicklich die Schule verlassen. Wir können hier keine Juden dulden." Wir haben bitterlich geweint, unsere Lehrerin hat versucht, uns zu trösten. Das war das erste Ereignis, welches mir unter die Haut ging.

Porträt der Familie Pollak
Porträt der Familie Pollak. Foto: Helga Feldner-Busztin, privat

Ich ging in weiterer Folge in eine Judenschule am Hundsturm. Da waren Kinder, die gesagt haben: ­"Jud, Jud, spuck in Hut", auf den Parkbänken stand "Juden sind unerwünscht". Auf diesen durften nur Arier Platz nehmen. Zu dieser Zeit haben auch die ersten Deportationen begonnen. Ein Kind aus meiner Schule ist plötzlich nicht mehr in den Unterricht gekommen – es war einfach weg. Ich habe die erste Gymnasialklasse abgeschlossen, die zweite konnte ich nicht mehr ganz fertig machen. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Schulen ganz zugesperrt.

Im Herbst 1938 ist mein Vater verhaftet und ins KZ Buchenwald deportiert worden. Meine Mutter hat eine Schiffskarte nach der anderen gekauft, aber mein Vater konnte nicht rauskommen. Eines Tages – es war im Sommer 1939 – ist er zurückgekommen, für uns ein unvergessliches Erlebnis. Er war vollkommen abgemagert, hat geweint, geschwitzt vor Angst, er war nicht wiederzuerkennen. Er durfte nur zwei Tage in Wien bleiben. Ich kann mich noch erinnern, wie wir ihn zum Bahnhof gebracht haben. Er stieg in den Zug ein und sagte zu uns: "Ich lasse euch natürlich sofort nachkommen, nach Shanghai." In Genua musste er feststellen, dass wir Betrügern aufgesessen waren, und dass es dieses Schiff nach Shanghai nicht gab. Das ganze Geld, das wir gehabt hatten, das Klavier, der Teppich, der Ring von meiner Mutter, alles war weg. Inzwischen war Krieg, uns ist es in Wien sehr schlecht gegangen. Im September 1941 wurde der Judenstern eingeführt, zu diesem Zeitpunkt war ich zwölf Jahre alt. Mein Vater wurde in Italien interniert. Er richtete dort eine kleine Krankenstation ein, weil es keinen Arzt gab. Italien war doch ganz anders.

Meine arme Schwester Elisabeth hatte Scharlach bekommen und war im Infektionsspital. Der Arzt kam und sagte: "Mach's Maul auf, Judenfratz", aber sie wollte das nicht tun. Der Arzt schlug sie daraufhin, ein hochfiebriges sechsjähriges Kind, ein Trauma für sie! Am 1. April 1943 wurde Liese aus der ­Quarantäne entlassen und wir wurden nach Theresien­stadt geschickt. Es war im Sommer sehr heiß und im ­Winter sehr kalt. Ich war pausenlos hungrig. Ich war 14, mager, habe aber eine Zeit lang mit dem Tragen von schweren Brettern im Sägewerk viele Extra­rationen bekommen. Ich habe eine Zwiebel mit der ­ganzen Schale oder rohe Erdäpfel einfach aufgegessen, so hungrig war ich.

Uns hat man in Theresienstadt das KZ Auschwitz in leuchtenden Farben dargestellt – ein Arbeitslager, wo wir mehr zu essen haben würden. Glücklicherweise haben wir unseren Transport verpasst. Im Herbst 1944 haben sie das Lager geräumt. Jede Woche wurden mindestens 2.000 Leute ahnungslos nach Auschwitz gefahren, zum Schluss waren wir nur mehr einige tausend.

Landwirtschaft fand außerhalb des Lagers statt, es gab eine riesige Mulde mit Gemüsekästen. Eines Tages zu Kriegsende stiegen wir hinunter zum Gemüsekasten und sahen rundherum Erdhügel, wo vorher keine waren. Plötzlich ragte ein Gewehrlauf heraus und eine Mütze mit einem Sowjetstern wurde sichtbar. Die Soldaten haben unsere Judensterne ­gesehen, kamen und gaben uns viel zu essen, es war so ein Genuss. Wir waren so ausgehungert. Die Deutschen haben davor noch eine ganze Reihe von Zügen nach Theresienstadt geschickt mit den Menschen aus anderen Konzentrationslagern, die überlebt hatten. Diese waren wochenlang unterwegs, ohne Essen, ohne Trinken, teilweise nackt und alle mit Flecktyphus infiziert. Vorwiegend waren es nackte Leichen und das Krematorium ist Tag und Nacht in Betrieb gewesen. Die Kinder haben die Asche in die Ecke geschüttet, das ist eine Erinnerung meiner Schwester. 

Nun wieder zu meinem Vater: Er war in diesem komfortablen Lager bis zu dem Tag, an dem die Deutschen hinkamen. Es lebten dort ca. 200 Juden – sie sind sofort nach Auschwitz geschickt worden. Im Jänner 1945 wurden sie zum Erschießen aufgestellt. Wie das genau war, weiß man nicht. Mein Vater hatte das unermessliche Glück, in Auschwitz von den Russen befreit zu werden. Er hatte eine mehrwöchige Gedächtnislücke wegen des Flecktyphus. Nach Stationen in verschiedenen Lazaretten war er Ende April 1945 endlich in Wien. Er meldete sich bei meinem Großvater. Er hatte vom Roten Kreuz die Liste der Überlebenden erhalten und gesehen, dass wir leben. Das hat ihm starken Auftrieb gegeben. Nach langer Zeit, im Juni, ist ein Brief von ihm gekommen. Wir hatten nichts, aber das ­bisschen, das wir hatten, haben wir verkauft, um Platz in einem Lastwagen zu bekommen, der uns mit ein paar anderen Wienerinnen und Wienern nach Österreich gebracht hat. Wir waren unter einer Plane, bis wir in Österreich angekommen sind. Unvorstellbar, wie Wien ausgesehen hat, überall waren Ruinen. Dann haben wir meinen Vater getroffen, er war am Boden zerstört. Letzten Endes sind wir vier durchs Netz ­gerutscht, aber von seiner Familie hat niemand überlebt. Seine Mutter ist in Theresienstadt gestorben. Seine Schwester, sein Bruder und die anderen Angehörigen, darunter auch mein kleiner Cousin, sind alle von Theresienstadt nach Auschwitz gebracht worden und wurden ermordet. Eine seiner Schwestern lebte in Budapest, sie wurde in die Donau geworfen.

Willkommenskultur in Wien gab es de facto keine – wir wohnten in Wien in einer arisierten Wohnung mit dem Ariseur – obwohl in einem Bett ohne Wanzen zu schlafen wahrlich ein echtes Erlebnis war. Ich hatte so einen Hass und eine Wut. Es dauerte einige Jahre, und meinen eigenen Reifungsprozess, um zu sehen, dass nicht alles schwarz und weiß ist. Es war hart.

Später habe ich meinen Mann kennengelernt. Ich wollte natürlich immer nach Palästina, um das Land aufzubauen. Ich war 16 Jahre alt, aber ich habe eingesehen, dass ich nicht von meiner Familie weg kann. Mein Vater war körperlich und psychisch so gezeichnet, das kann man sich kaum vorstellen. Morgens ist er aufgestanden, hat sich rasiert und ist in die Polizeidirektion ge­gangen. Am Abend ist er nach Hause gekommen, völlig zermürbt. Jede Nacht hat er im Schlaf geschrien: "Appell, Appell!"

Helgas und Elisabeths Eltern
Helgas und Elisabeths Eltern. Foto: Helga Feldner-Busztin, privat

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte

Dokument

Helga Feldner-Busztin – Die Geschichte hinter dem Namen (tagged PDF Deutsch + English) (PDF, 667 KB)