Tanja Eckstein
Für mich ist es ganz wichtig, dass man die Namen der Menschen nach Wien zurückgeholt hat.
Das Gespräch mit Tanja Eckstein wurde am 4. November 2022 in Wien geführt.
Tanja Eckstein wurde in Berlin geboren. Ihr Vater war gebürtiger Wiener. Im Zweiten Weltkrieg wurde er verhaftet und nach Dachau verschleppt. Nach fünf Monaten konnte er nach England flüchten. Für Tanja bedeutet die Namensmauern Gedenkstätte sehr viel. 124 Mitglieder ihrer Familie wurden im Holocaust ermordet, auch ihre Großeltern Alfred und Klara Freund. Mit der Gedenkstätte hat man für sie zumindest die Namen der Opfer der Shoah wieder nach Wien zurückgeholt.
Mein Name ist Tanja Eckstein, ich bin 1949 in Berlin geboren, mein Vater war Wiener Jude. Er wurde im November 1938 verhaftet und nach Dachau verschleppt. Nach fünf Monaten in der Hölle erhielt mein Vater ein Permit aus England. Er konnte Dachau verlassen und ging zunächst nach Wien. Wie es ihm seine Mutter beschafft hatte, weiß ich nicht, denn meine Großeltern waren in der Zwischenzeit um ihr Vermögen gebracht worden. Innerhalb kürzester Zeit musste er sich dort von seinen Eltern für immer verabschieden und nach England flüchten. Er blieb neun Jahre in England. Er konnte nicht nach Wien zurückkehren, weil er dort zu viel Schreckliches erlebt hatte und ging mit Freunden, die er in England kennengelernt hatte, nach Berlin. Meine Eltern lernten sich in Berlin kennen und sind 1952 in einen Ort nahe Berlin gezogen, dieser gehörte damals zur DDR. Dort bin ich aufgewachsen. 1984 bin ich mit meinem Mann und meinen Kindern, meine ältere Tochter war damals neun Jahre alt, die jüngere drei Jahre, nach Österreich gezogen. Mit der österreichischen Staatsbürgerschaft, die mir zustand, war das möglich. Seitdem lebe ich in Wien.
Mein Vater hat über einige furchtbare Erlebnisse im Konzentrationslager sowie ein paar kleinere Episoden, die seiner Familie widerfahren sind, gesprochen, hauptsächlich aber über seine geliebten Großeltern, die in der Nähe von Bratislava gelebt haben. Von seinen Eltern hat er nicht viel erzählt. Mir ist nur eine einzige Geschichte von seiner Mutter bekannt, die immer am Abend aus dem Fenster auf den Gaußplatz geschaut hat, wenn er mit seinem Freund vor dem Haus stand und sie sich über Kunst, Literatur und die neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften unterhielten. Er war so traumatisiert, er war das einzige Kind seiner Eltern, er hat sie so sehr geliebt und wollte sie nach Großbritannien nachholen. Für ihn war es sein persönliches Lebenstrauma, dass er seine Eltern nicht retten konnte.
Ich weiß, dass meine Großeltern aus ihrer Wohnung hinausgeworfen wurden. Sie lebten dann in einer Sammelwohnung im 2. Bezirk. Ich war vor vielen Jahren einmal in ihrer Wohnung. Eine alte Dame öffnete mir die Tür. Sie erzählte mir, dass sie in die Wohnung eingezogen war, gleich nachdem meine Großeltern dort hinausgeworfen worden waren. Das war für mich traumatisierend. Ich ging durch die Wohnung und es war für mich schrecklich. Ich wusste, während ich durch die Zimmer ging und alles oberflächlich betrachtete, zu mehr war ich nicht in der Lage, dass über diesen Fußboden auch mein Vater und meine Großeltern gegangen waren. Ja, es war furchtbar. Nach dem Rauswurf wohnten meine Großeltern in der Nestroygasse. Von dort sind sie am 26. Februar 1941 in das Ghetto nach Opole in der Nähe von Lublin deportiert worden. Von diesem Ghetto habe ich ein sehr genaues Bild, weil ich eine Dame, sie hieß Lilli Tauber, interviewt habe. Ihre Eltern sind mit demselben Transport wie meine Großeltern dorthin gekommen und ihr Vater hat ganz viele Briefe nach Wien geschrieben, Fotos geschickt und die Zustände genau geschildert.
Dieses Ghetto existierte ein Jahr. Wenn man niemanden hatte, der einen versorgte, ist man oft aufgrund von Krankheiten oder Kälte gestorben. Zuerst wurden einige Männer kurz vor der Auflösung des Ghettos im nächsten Waldstück erschossen, die anderen Frauen, Männer und Kinder wurden in die Vernichtungslager Belzec oder Sobibór gebracht und vergast. Deshalb kann ich auch nicht ganz genau sagen, ob meine Großeltern bereits im Ghetto Opole an Krankheiten oder Hunger gestorben sind oder in den Vernichtungslagern ermordet wurden. Mein Vater war zwar ein Einzelkind, aber es gab viele Cousins, Cousinen, Tanten und Onkel, die fast alle ermordet wurden. Mein Mann arbeitet als jüdischer Genealoge und hat herausgefunden, dass ungefähr 124 Menschen aus meiner Familie ermordet worden sind. Auf der Namensmauern Gedenkstätte finden sich sehr viele von ihnen, natürlich auch meine Großeltern Alfred und Klara Freund. Ebenso alle, die Gelbkopf hießen: Meine Großmutter war eine geborene Gelbkopf. Aber auch noch jene, die verheiratet waren und andere Namen angenommen hatten.
Für mich sind die Namensmauern sehr wichtig. Es ist erschütternd, wenn man die vielen Namen sieht. Auch für diejenigen, die keine familiäre Bindung zu den hier genannten Menschen haben, sind die vielen Namen der Ermordeten ein Schock, hoffe ich. Es ist großartig, dass diese Mauern entstanden sind und ich besuche sie auch. Ich war auch bei der Einweihung dabei. Für mich ist es ganz wichtig, dass man die Namen der Menschen nach Wien zurückgeholt hat: Namen sind ganz wichtig, die Geschichten sind noch wichtiger, leider kennt man viele davon nicht. Seit 2002 arbeite ich für den Verein Centropa und habe 70 Familiengeschichten von Holocaustüberlebenden aufgeschrieben. Das sind richtig lange Geschichten, beginnend bei den Großeltern bis in unsere heutige Zeit. So konnte ich dazu beitragen, dass einige der Ermordeten vor dem Vergessen bewahrt wurden. Aber wenigstens die Namen hat man hier verewigt, vermutlich nicht alle, aber die meisten. Es gibt auch einen Bereich, an dem immer noch Namen nachgetragen werden. Das ist natürlich wunderbar.
Wiedergutmachen kann man überhaupt nichts, gar nichts. Die Überlebenden leiden noch mehr, je älter sie werden. Nach dem Krieg haben die meisten Familien gegründet, ihre Kinder großgezogen, gearbeitet, aber es bleibt in ihnen. Sie und wir als Nachkommen sehen die Welt mit diesem Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Auch ich habe das auf meine Kinder weitergegeben, ganz bestimmt.
Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.
Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich
Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.
Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.
Dokument
Tanja Eckstein – Die Geschichte hinter dem Namen (tagged PDF Deutsch + English) (PDF, 306 KB)