Vera Chapman

Porträt Vera Chapman
Foto: BKA/Florian Schrötter
Ohne meine Mutter wäre ich heute nicht hier, um unsere Geschichte zu erzählen.

Das Gespräch mit Vera Chapman wurde am 30. Mai 2022 in Wien geführt.

Vera Chapman wurde in Wien geboren. Heute lebt sie in West Palm Beach, Florida. Ihre Familie konnte 1939 aus Österreich fliehen und so ihr Leben retten.

Ich wurde am 16. Februar 1938 in Wien geboren – zu einem schlechten Zeitpunkt, könnte man sagen. Ich hatte eine Schwester, die zwölf Jahre älter war als ich. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, wollte sie eigentlich aufgrund der damaligen Situation eine Abtreibung. Für meinen Vater, er stammte aus einer orthodoxen Familie, war das jedoch keine ­Option. Seine Familie stammte ursprünglich aus Polen, er hatte fünf Geschwister. Vier wurden ermordet, einer überlebte in Auschwitz, starb jedoch kurz darauf an seinen vielen Erkrankungen. Mein Vater stammte ursprünglich aus einer armen polnischen Familie, ging auf der Suche nach einem besseren Leben nach Wien und wurde dort sehr erfolgreich. ­Deshalb wollte er die Stadt auch nicht verlassen. Er glaubte außerdem nicht daran, dass Hitler sich halten würde.

Als meine Schwester nicht mehr in die öffentliche Schule gehen konnte, schickte mein Vater sie zuerst in eine Privatschule und später in eine jüdische Schule. Nachdem diese geschlossen wurde, versteckte sie eine Lehrerin, die Christin war, in ihrem Dorf. Meine ­Schwester war blond und hatte blaue Augen, so glaubten alle, sie sei Arierin. Mit der Zeit begannen jedoch die Nachbarn, der Lehrerin Fragen zu stellen: "Wie ist es möglich, dass wir noch nie etwas von Ihrer Cousine aus Wien gehört haben?" "Wieso ist sie erst jetzt hier?" Schließlich wurde es für sie zu gefährlich, dort zu bleiben, obwohl sie jeden Sonntag zur Kirche ging und sich bekreuzigte. Deshalb kam sie wieder zu uns nach Hause. Meinen Vater hatten sie nach dem "Anschluss" verhaftet und in ein Gestapo-Gefängnis gesperrt.

Vera Chapman betrachtet eine Mauer der Shoa Namensmauer Gedenkstätte
Foto: BKA/Florian Schrötter

Er konnte sich aus dem Gefängnis "freikaufen" und versteckte sich fast ein Jahr lang in seinem eigenen Warenhaus außerhalb Wiens. Meine Mutter versorgte ihn mit Nahrung und Kleidung, während in fast wöchentlichem Abstand die Gestapo vor unserer Tür stand und nach Max Friedman suchte: "Wo ist der Jud Max Friedman?", fragten sie immer.

Nachdem eine Ausreise auf legalem Wege nicht mehr möglich war, haben es meine Eltern irgendwie geschafft, gefälschte Dokumente für uns und meine Großmutter zu bekommen. Mein Großvater war zu dem Zeitpunkt gesundheitlich in so schlechter ­­Verfassung, dass er keine Reise mehr antreten konnte. Meine Großmutter beschloss daher, bei ihm zu bleiben und das ist der Grund, warum ihr Name heute auf einer der Namensmauern steht.

Wir fuhren mit dem Zug nach Aachen, eine Stadt an der Grenze zwischen Deutschland und Belgien. In Aachen mussten wir zwei Tage bleiben, bis wir einen Ortskundigen fanden, der uns durch die Wälder in die Nähe von Brüssel führen sollte. Als der Taxifahrer uns vom Bahnhof abholte, sollten wir in ein Hotel ­gebracht werden, in dem alle Jüdinnen und Juden übernachteten, das sogenannte Judenhotel. Mein Vater sagte zum Taxifahrer: "Wir bleiben hier nicht." So fuhr er uns in ein kleines Hotel, wo der Eigen­tümer von meinem Vater eine klare Anweisung bekam: "Wir bleiben für zwei Tage hier, ich werde dich sehr gut bezahlen, bitte sei still." Die Gestapo patrouillierte im ganzen Ort und genau am Abend unserer Ankunft wurde das "Judenhotel" gestürmt und alle wurden mitgenommen. Meine Familie hatte Glück, denn mein Vater hatte die richtige Entscheidung ­getroffen und der Hotelbesitzer verriet uns nicht.

Nach zwei Tagen sollte meine Familie ihren Fußmarsch über die Grenze antreten. Da wurde meinen Eltern klar, dass die für die Grenzüberquerung bezahlten Einheimischen, Bauern aus dem Ort, es nicht riskieren würden, mit einem ­Säugling, der jederzeit zu weinen beginnen konnte, den dichten, von der ­Gestapo ­beobachteten Wald zu durchqueren. Zu diesem Zeitpunkt mussten meine Eltern die folgenschwere Entscheidung treffen, mich einer jungen Bäuerin zu überlassen, die sich einige Tage lang um mich kümmerte, bis meine Eltern und meine Schwester sicher die Grenze nach Belgien überquert hatten.

So kamen wir also 1939 nach Belgien. Wir wohnten bei einer entfernten Verwandten meiner Mutter, die sie zuvor noch nie gesehen hatte. Mein Großvater hatte ihr den Kontakt und die Adresse gegeben, bevor wir Wien verließen. Wir hatten Glück, die Verwandten meiner Mutter waren wohlhabend und hatten große Wohnungen. Wir blieben drei Monate lang bei ihnen und fingen an, ein geregeltes Leben aufzubauen. Meine Schwester ging wieder zur Schule, mein Vater leitete das Büro seines Bruders. Er fühlte sich sehr sicher in Belgien. Aber meine Mutter hatte ein ungutes Gefühl, sie beharrte darauf, dass wir nach Palästina weiterreisen. Sie meinte, es sei in Belgien nicht sicher, und so war es auch. Ohne meine Mutter wäre ich heute nicht hier, um unsere Geschichte zu erzählen.

Wir gingen an Bord eines Frachters namens "The Pasha", der über Alexandria in Ägypten nach Haifa fuhr. Es war das letzte Schiff, das den Hafen verließ, und so kamen wir nach Palästina. Als mein Vater sehr krank wurde, zogen wir in die USA. ­Er starb in New York. Ich beschloss, dort zu bleiben und mir ein Leben aufzubauen.

Mein Vater hatte zuvor noch nach dem Krieg unter Tränen Wien besucht. Die Stadt war zerstört und er hatte nichts mehr. Vier seiner fünf Geschwister wurden in ­Auschwitz ermordet, ebenso seine Eltern – meine Großeltern.

Die Namensmauern …
… sind ein wundervolles Projekt. Es ist für mich eine große Ehre, hier zu sein. Ein Mahnmal wie dieses hilft, die Geschichte zu bewahren. Der Name meiner Großmutter steht hier. Ich denke, vor allem die jungen Generationen können von einer Gedenkstätte wie dieser viel mitnehmen. Natürlich wissen sie, dass es den Holocaust gab, aber nicht, welche Auswirkungen er hatte. In Amerika habe ich viele Vorträge über unsere Geschichte an Schulen gehalten. Entscheidend ist, dass wir darüber sprechen, das Thema im Unterricht behandeln und allen Schulkindern näherbringen.
Vera Chapman zeigt auf einen Namen auf einer Mauer der Shoa Namensmauern Gedenkstätte
Foto: BKA/Florian Schrötter

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte

Dokument

Vera Chapman – Die Geschichte hinter dem Namen (tagged PDF Deutsch + English) (PDF, 1 MB)