Caroline Wellbery

Porträt Caroline Wellbery
Foto: BKA/Florian Schrötter
Im Fall von Traumata ist es noch wichtiger, eine Erinnerung am Leben zu erhalten – nicht nur für sich selbst, sondern auch als Statement ­für andere.

Das Gespräch mit Caroline Wellbery wurde am 7. Juni 2022 in Washington, D.C. geführt.

Caroline Wellbery ist Professorin an der Georgetown University und wohnt in Bethesda, Maryland. Sie wurde in den USA als Tochter einer Westfälin und eines Wieners geboren. Ihr Vater war Jude, seine Familie floh über Ungarn und die Tschechoslowakei nach Südamerika und schlug schließlich Wurzeln in den Vereinigten Staaten. Aus seiner Familie überlebten die Eltern ­und zwei Brüder seiner Mutter, alle anderen wurden ermordet.

Meine Mutter war Westfälin, sie ist in einer streng katholischen Kleinstadt aufgewachsen. Mein Vater war ein säkularer Jude aus Wien, geboren 1922. Seine Vorfahren waren alle aus Osteuropa. Mein Großvater war aus Rumänien, meine Großmutter aus Ungarn. Sie waren damals nach Wien gezogen, weil hier die Möglichkeit für Gelegenheitsarbeiten bestand. Mein Vater, Egon, war ein Einzelkind. Er ist in der Geologengasse 8 im 3. Bezirk aufgewachsen. Er ging dort bis zum "Anschluss" auch zur Schule, ab dann war das für ihn nicht mehr möglich. Ab diesem Zeitpunkt wusste meine Familie, dass sie Wien verlassen muss. Sie versteckten sich zuerst in ihrer Wohnung, flüchteten aber zum ersten möglichen Zeitpunkt nach Ungarn.

Meine Großmutter war noch mit ein paar Verwandten dort in Kontakt gewesen, aber als sie dort angekommen waren, mussten sie geschockt feststellen, dass sie dort auch nicht willkommen waren. Also waren sie gezwungen, die Stadt wieder zu verlassen. Sie wurden von der lokalen Polizei verhaftet und auf einem Landstreifen zwischen Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei, einer Art Niemandsland, ausgesetzt. Es war sehr kalt, schon fast Winter. Jeden Tag wurden mehr und mehr Juden auf diesem Landstreifen ausgesetzt. Jeder, der versuchte, von dort zu flüchten, wurde erschossen. Der Onkel meines Vaters schaffte es schließlich aus Bratislava zu ihnen, er hatte eine Genehmigung, Essen zu liefern. Sie hungerten alle, die Situation war prekär. In einem voll beladenen Transporter konnte er meinen Vater und seine Eltern, unter Decken versteckt, aus dem Niemandsland schmuggeln. Sie flohen dann weiter nach Prag. Dort warteten tausende oder gar hunderttausende Flüchtlinge auf Visa und irgendwie hat es mein ­Großvater geschafft, welche zu ­bekommen. Sie flogen von Prag nach Paris und reisten mit dem Schiff nach Südamerika weiter.

Es gab 1938 und 1939 nicht viele Zufluchtsorte für sie. Bolivien nahm Flüchtlinge auf. Also begannen sie ein neues Leben in Südamerika und wohnten in den folgenden zehn Jahren unter anderem in Bolivien, Chile und Ecuador. Für handwerkliche Arbeit hatte mein Vater wenig Geschick, dennoch fand er für einige Zeit eine Beschäftigung in einer Zinnmine in Potosí auf 5.000 Höhenmetern. Er arbeitete drei Jahre als Assistent des Managers, einem Amerikaner. Dieser erkannte seine Talente und borgte ihm viele Bücher. ­So lernte mein Vater Englisch und Spanisch und konnte sich weiterbilden.

Von Bolivien aus ging es für meinen Vater weiter nach Ecuador. Dort gab es eine sehr lebendige ­jüdische Gemeinde. Eines Tages erhielt mein Vater einen Brief von Professor Bernhard Blume. Dieser unterrichtete an der Ohio State University und war gewillt, meinen Vater zu unterstützen. So kam er nach ­Columbus, Ohio, absolvierte das College und lernte beim Unterrichten von deutscher Literatur an umliegenden Bildungsein­richtungen meine Mutter kennen.

Portrait von Carolines Vater Egon im Botanischen Garten
Portrait von Carolines Vater Egon im Botanischen Garten, fotografiert von Irene Lindgren, seiner zweiten Ehefrau. Foto: Caroline Wellbery, privat
Portrait von Carolines Vater Egon
Portrait von Carolines Vater Egon im Botanischen Garten, fotografiert von Irene Lindgren, seiner zweiten Ehefrau. Foto: Caroline Wellbery, privat
Von der Familie meines Vaters hat außer seinen Eltern und zwei seiner Onkel niemand überlebt. Einer seiner Onkel konvertierte zum Christentum und konnte sich so retten. Der andere, der sie aus dem Niemandsland zwischen Ungarn und der Tschechoslowakei gerettet hatte, überlebte auch. Außer den Namen dieser Verwandten kenne ich keine weiteren Namen der Ermordeten innerhalb des größeren Familienkreises. Generell wollen Menschen etwas haben, das greifbar ist, um sich daran festzuhalten. Und als solches sehe ich die Namensmauern. Im Fall von Traumata ist es noch wichtiger, eine Erinnerung am Leben zu erhalten. Nicht nur für sich selbst, sondern auch als Statement für andere. Es ist sehr traurig und zugleich schockierend, wie viele Menschen hier in den Vereinigten Staaten niemals etwas vom Holocaust gehört haben und wie viele diesen leugnen. Eine Mauer bedeutet, etwas Handfestes und Unerschütterliches zu haben – so ehrt die Namensmauern Gedenkstätte all jene Menschen, die ermordet wurden.

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte