Thomas Brunner

Porträt Thomas Brunner
Foto: BKA/Florian Schrötter
Üblicherweise geht man zu einem Grabstein, um einer Person zu gedenken, aber diese Menschen haben keinen Grabstein.

Das Gespräch mit Thomas Brunner wurde am 7. Juni 2022 in Washington, D.C. geführt.

Thomas Brunner wurde 1945 in den USA geboren. Heute lebt er in Washington. Seine Eltern lebten in Wien und flüchteten 1938 vor dem Naziregime. Nicht so der Großteil seiner Familie, ihre Namen finden sich heute auf der Shoah Namensmauern Gedenkstätte.

Vor dem Krieg führte mein Vater einen erfolgreichen kleinen Buchhandel und verkaufte an Büchereien und den Einzelhandel. Meine Mutter war Montessori-­Lehrerin. Als sich die Lage jedoch verschlechterte, arbeitete sie als Angestellte in einer Wäscherei.

Zum Zeitpunkt des "Anschlusses" war mein Vater 37 Jahre alt und meine Mutter 30. Kurz darauf wurde mein Vater von der Gestapo verhaftet. Fälschlicherweise nahmen sie an, er wäre der Anführer einer damals illegalen sozialistischen Parteiorganisation und dass er zusätzlich jüdisch war, half ihm in dieser Situation natürlich auch nicht. Sie beschuldigten ihn zudem, er hätte keine Steuern gezahlt, was natürlich nicht stimmte. Aber es gab ihnen einen Vorwand, ihn zu misshandeln und Geld zu verlangen. Daraufhin sagte er ihnen: "Wenn ihr mich gehen lasst, dann besorge ich das Geld." Also ließen sie ihn frei. Er ging sofort zur Wohnung meiner Mutter. Als er diese betrat, fiel er vor Erschöpfung in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, kontaktierte er telefonisch die tatsächlichen Anführer der österreichischen (sich damals im Untergrund befindlichen) sozialistischen Partei und erzählte ihnen alles. Es wurde ihm geraten, die Stadt zu verlassen und sich zu verstecken. Also brachten sie ihn in die Berge und ließen ihn einen Imkerkurs machen. Er lernte in sechs Wochen, was es bedeutet, Imker zu sein und Bienenstöcke zu pflegen. In der Zwischenzeit bereitete meine Mutter alles für die Flucht aus Österreich vor. Sie verließen schließlich Österreich gemeinsam in einem Zug, der sie in die Nähe der deutsch-französischen Grenze brachte. Von dort wollten sie mit einer Straßenbahn bis zur Grenze fahren. Ein Mann sprach sie an und meinte, er wüsste, was sie vorhaben und es würde nicht klappen. Für Geld würde er sie jedoch sicher über die Grenze bringen. Meine Eltern standen also vor der Entscheidung, das geringere Übel zu wählen. Also entschieden sie sich, dem Mann zu vertrauen und sein Angebot anzunehmen. Er brachte sie in eine Scheune einige hundert Meter entfernt von der Grenze und befahl ihnen zu warten, bis er wiederkäme. Er kam zurück und zeigte auf eine Anhöhe in einer gewissen Entfernung. Dort würde ein Taxi auf die beiden warten, welches sie nach Paris bringen werde. Meine Eltern waren überzeugt, sie würden in den sicheren Tod fahren, aber der Schmuggler war ein ehrlicher Mensch und das Taxi brachte sie tatsächlich nach Paris. Dort blieben sie eine Zeit lang. Meine Mutter arbeitete untertags mit Kindern. Glücklicherweise war sie jedoch am Nachmittag des 31. August 1939 zu Hause. Als das Telefon läutete, meldete sich ein Mitarbeiter aus der amerikanischen Botschaft. Sollten sie und mein Vater noch am selben Tag zur Geschäftszeit zur Botschaft kommen, würden ihnen zwei Flüchtlingsvisa für die USA ausgestellt. Und so kam es, dass sie im Dezember 1939 von Brest aus in die USA reisten. Sie kamen Anfang Jänner 1940 in New York an, mit gerade mal 20 Dollar in der Tasche.

Das erste Foto meiner Mutter, aufgenommen um 1931, im Alter von 21 oder 22 Jahren
Das erste Foto meiner Mutter, aufgenommen um 1931, im Alter von 21 oder 22 Jahren. Foto: Thomas Brunner, privat
Foto von meiner Hochzeit am 19. Jänner 1967 mit meinen Eltern. Es war unser letztes gemeinsames Bild, mein Vater starb sechs Wochen später.
Foto von meiner Hochzeit am 19. Jänner 1967 mit meinen Eltern. Es war unser letztes gemeinsames Bild, mein Vater starb sechs Wochen später. Foto: Thomas Brunner, privat
Dieses Foto von 1935 ist etwas ganz anderes. Es zeigt meine Tante Sima Koblitz, die Schwägerin meiner Mutter, geboren am 10. September 1905 und ihre Tochter Erika Koblitz, geboren am 30. Jänner 1934.
Dieses Foto von 1935 ist etwas ganz anderes. Es zeigt meine Tante Sima Koblitz, die Schwägerin meiner Mutter, geboren am 10. September 1905 und ihre Tochter Erika Koblitz, geboren am 30. Jänner 1934. Sima und Erika wurden am 27. April 1942 gemeinsam mit meinem Onkel Rudolf, dem Bruder meiner Mutter und Simas Ehemann, geboren am 8. April 1904, ihren Söhnen Heinz und Felix, geboren am 4. Jänner 1936 und am 4. November 1938, und meiner Großmutter Agathe, geboren am 5. September 1880, nach Włodawa deportiert. Rudolf wurde am 3. Juli 1942 in Majdanek ermordet. Die Todestage der anderen Familienmitglieder sind unbekannt, aber niemand von ihnen überlebte. So weit ich weiß, überlebten von den mehr als 1.000 Wiener Jüdinnen und Juden, die nach Włodawa deportiert wurden, nur drei. Hätte Felix überlebt, wäre er jetzt 83 Jahre alt, Heinz und Erika ein bisschen älter. Wäre es so gekommen, hätten wir uns sicher gekannt und eine Beziehung zueinander aufgebaut. Ich gehe davon aus, dass all diese Menschen auf der Namensmauer Gedenkstätte verewigt sind. Foto: Thomas Brunner, privat
Kein Zweifel an einer österreichischen Identität.
Kein Zweifel an einer österreichischen Identität. Foto: Thomas Brunner, privat
US-Passfoto meiner Mutter aus dem Jahr 1965.
US-Passfoto meiner Mutter aus dem Jahr 1965. Foto: Thomas Brunner, privat

Mein Vater wusste von einem Joseph Buttinger und seiner Frau Muriel Gardiner Buttinger, einer Psychoanalytikerin. Sie hatte mit Sigmund Freud gearbeitet und empfahl meinem Vater, wieder ins Buchgeschäft einzusteigen. Es gäbe eine hohe Nachfrage nach ­Büchern über Psychiatrie. Mein Vater baute ein erfolgreiches Geschäft auf und machte sich als führender Buchhändler einen Namen.

Meine Eltern waren nicht mehr bereit, nach Wien zurückzukehren. Ich hingegen entschied mich dazu, 1965 als Student nach Wien zu fahren. Ich schrieb eine Arbeit für einen Kurs und musste dafür historische Nachforschungen betreiben. Während meiner Reise traf ich viele Freunde meiner Eltern und auch Irene Koblitz. Sie war die Witwe des Onkels meiner Mutter, Alexander Koblitz. Meine beiden Großmütter sowie mein Onkel mütterlicherseits und seine Familie wurden von den Nazis ermordet. Auf der Namensmauern Gedenkstätte finden sich also viele Personen mit dem Nachnamen Koblitz, welcher der Mädchenname meiner Mutter war. Ebenso finden sich dort viele Personen mit dem Nachnamen Brunner, dem Mädchennamen meiner Großmutter.

Foto: Thomas Brunner, sitzend, erzählt
Foto: BKA/Florian Schrötter
Für meine Familie und mich ist diese Gedenkstätte eine sehr wichtige Geste. Ein Ort des Gedenkens, den man aufsuchen kann, um sich daran zu erinnern, dass diese Personen einmal in Österreich gelebt haben. Üblicherweise geht man zu einem Grabstein, um einer Person zu gedenken, aber diese Menschen haben keinen Grabstein. Der Gedanke einer so großen Gedenkstätte erscheint mir daher sehr angemessen.

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte