Michael Bibring

Porträt Michael Bibring
Foto: BKA/Florian Schrötter
Erinnern Sie sich, als ich Ihnen vor Jahren einen Gefallen getan habe? Würden Sie für meine Kinder bürgen und als Bürge dienen, wenn ich Sie Ihnen schicke?

Das Gespräch mit Michael Bibring wurde am 24. Mai 2022 in London geführt.

Michael Bibring lebt in London. Sein Vater Harry und seine Tante Gerta waren ursprünglich aus Wien. Sie kamen im März 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien, mit Hilfe der Bürgschaft einer Familie, die Harrys und Gertas Vater einen Gefallen schuldete.

Mein Vater Harry war im November 1938 zwölf Jahre alt. In der "Kristallnacht" änderte sich sein Leben dramatisch. Seine Familie war aus der Mittelschicht, er führte ein behütetes Leben und hatte viele Hobbies. Seine Leidenschaft war das Eislaufen: Er lief immer vor der Schule und nach der Schule. Er ging auch gerne ins Kino. Nach den Ereignissen im November 1938 konnte er all das nicht mehr tun. Er durfte nicht mehr auf den Eislaufplatz oder ins Kino. Mein Großvater, dessen Name auch Michael war, hatte ein Geschäft, er war Herrenausstatter. Er war sehr optimistisch und dachte, die Situation würde nicht lange anhalten. Davor hatte er nie wirklich Antisemitis­mus erfahren. Die meisten seiner Kunden wussten nicht einmal, dass er Jude war, denn sein Geschäft war nicht im jüdischen Viertel. Aber auch für ihn änderte sich mit der "Kristallnacht" alles. Sein Geschäft wurde zerstört und er wurde verhaftet. Als er wieder freigelassen wurde, wussten sie: Wir müssen weg.

Kleider Bibring, das Herren­bekleidungsgeschäft meines Großvaters
Kleider Bibring, das Herren­bekleidungsgeschäft meines Großvaters. Foto: Michael Bibring, privat
Mein Vater, seine Schwester Gerta und ihre Mama Lea, um das Jahr 1931 / 32
Mein Vater, seine Schwester Gerta und ihre Mama Lea, um das Jahr 1931/32. Foto: Michael Bibring, privat
Mein Vater mit seiner Schwester und seinen Eltern im Jahr 1927
Mein Vater mit seiner Schwester und seinen Eltern im Jahr 1927. Foto: Michael Bibring, privat

Die Flucht gestaltete sich nicht einfach. Mein Großvater hatte gehört, dass Shanghai einen Außen­minister hatte, der Juden helfen würde. Sie könnten ohne Papiere und Visa einreisen. Nachdem er den ­Arrest verlassen durfte, ging mein Großvater in ein Reisebüro, um Tickets nach Shanghai zu kaufen. Auf dem Weg nach Hause wurde er jedoch aus­geraubt, die Tickets wurden gestohlen. Da sein ­Geschäft zerstört worden war, hatte er keine weiteren Mittel. Die einzige Option, die übrig blieb, war, die Kinder mit dem Kindertransport zu retten. Er erinnerte sich an seinen Krankenhausaufenthalt im Jahre 1934 / 35 zurück, bei dem er die in Großbritannien lebende ­Familie Landsman kennenlernte und ihr half. Er schrieb ihnen aus diesem Grund am 12. oder 13. November 1938 in einem Brief: "Erinnern Sie sich, als ich Ihnen vor Jahren einen ­Gefallen getan habe? Würden Sie für meine Kinder bürgen und als Bürge dienen, wenn ich sie Ihnen schicke?" Sie antworteten prompt mit "Ja". So verließen mein Vater und seine Schwester Wien mit dem Kindertransport am 13. März 1939.

Mein Vater und seine Schwester wohnten im ­6. Bezirk. Ich besuchte Wien mit meiner Frau Linda, unseren Kindern Lee und Nikki sowie mit unserem Schwiegersohn Ray nach dem Tod meines Vaters im Dezember 2019. ­Wir waren zu der Feier anlässlich der neu verlegten "Stolpersteine" vor dem Wohnhaus meiner Eltern angereist. Daraufhin ging ich mit meiner Familie wortlos vom Wohnhaus bis zum etwa 500 Meter entfernten Westbahnhof. Die Vorstellung, dass mein Großvater und meine Großmutter am 13. März 1939, wissend, dass sie ihre Kinder wahrscheinlich nie mehr wieder­sehen, sie zum Bahnhof begleiteten, war für mich sehr emotional. Ihr Mut war erstaunlich.

Die "Steine der Erinnerung" mit den Namen der Familie, ­vor dem Eingang des Wohnhauses, wo die Familie zuletzt in Wien wohnte
Die "Steine der Erinnerung" mit den Namen der Familie, ­vor dem Eingang des Wohnhauses, wo die Familie zuletzt in Wien wohnte. Foto: Michael Bibring, privat
Meine Familie mit dem Bezirksvorsteher des 6. Bezirks bei der Einweihung der "Steine der Erinnerung" am 4. Dezember 2019
Meine Familie mit dem Bezirksvorsteher des 6. Bezirks bei der Einweihung der "Steine der Erinnerung" am 4. Dezember 2019. Foto: Michael Bibring, privat
Briefe zwischen meinem Vater und seinen Eltern über Vermittlung des Roten Kreuzes
Briefe zwischen meinem Vater und seinen Eltern über Vermittlung des Roten Kreuzes. Foto: Michael Bibring, privat
Meinem Vater und Gerta war es erlaubt, jeweils einen Brief pro Monat zu schicken. Die Briefe wurden über London nach Genf und weiter nach Wien versendet und wurden über dieselbe Route zurückgeschickt. Jeder Brief durfte nur 25 Wörter enthalten. Das war die einzige Möglichkeit der Kommunikation.
Meinem Vater und Gerta war es erlaubt, jeweils einen Brief pro Monat zu schicken. Die Briefe wurden über London nach Genf und weiter nach Wien versendet und wurden über dieselbe Route zurückgeschickt. Jeder Brief durfte nur 25 Wörter enthalten. Das war die einzige Möglichkeit der Kommunikation. Foto: Michael Bibring, privat

Mein Großvater und meine Großmutter konnten so ihre Kinder aus Wien herausbringen und retten, sich selbst jedoch nicht. Mein Großvater sollte 1941 mit dem Zug in ein Konzentrationslager gebracht werden. Auf dem Weg dorthin hatte er, man muss schon fast sagen glücklicherweise, einen Herzinfarkt. Sie warfen ihn daraufhin aus dem Waggon und er wurde auf einem Friedhof in Wien begraben. Meine Großmutter wurde in das Vernichtungslager Sobibór gebracht, wo sie 1942 ermordet wurde.

In Großbritannien angekommen wurden mein Vater Harry und seine Schwester Gerta getrennt und lebten in unterschiedlichen Häusern der Familie Landsman. Meine Tante Gerta wurde bei der Familie Landsman als Dienst­mädchen angestellt und mein Vater Harry lebte in verschiedenen Häusern, die der Familie Landsman und deren Freunden gehörten und wech­selte regelmäßig den Wohnort. Er wurde von der Familie angestellt und lieferte an deren ­Geschäfte in ganz London Anzug­stoffe aus. Er lernte schnell Englisch. Bevor er es sich versah, war ihm das Londoner U-Bahn-Netz wie seine Westentasche vertraut, die Arbeit mochte er jedoch nicht. So entschloss er sich, die Abendschule zu machen und zu studieren. Sein Studium schloss er als Diplomingenieur ab.

Mein Vater und meine Mutter Muriel an ihrem Hochzeitstag am 3. August 1947.
Mein Vater und meine Mutter Muriel an ihrem Hochzeitstag am 3. August 1947. Foto: Michael Bibring, privat
Meine Eltern auf einer Kreuzfahrt. Sie bereisten zusammen die ganze Welt.
Meine Eltern auf einer Kreuzfahrt. Sie bereisten zusammen die ganze Welt. Foto: Michael Bibring, privat
Mein Vater gemeinsam mit meinem Sohn Lee, vor seiner Bar Mitzwa. Mein Vater hatte keine eigene, da sie im Dezember 1938 hätte ­stattfinden sollen und aufgrund der sogenannten "Kristallnacht" ab­gesagt werden musste. Lees Bar Mitzwa wurde mit der Bar ­Mitzwa meines Vaters ver­bunden – was sehr ­emotional war.
Mein Vater gemeinsam mit meinem Sohn Lee, vor seiner Bar Mitzwa. Mein Vater hatte keine eigene, da sie im Dezember 1938 hätte ­stattfinden sollen und aufgrund der sogenannten "Kristallnacht" ab­gesagt werden musste. Lees Bar Mitzwa wurde mit der Bar ­Mitzwa meines Vaters ver­bunden – was sehr ­emotional war. Foto: Michael Bibring, privat
Portraitfotos Lea und Michael Bibring
Meine Großeltern Lea und Michael Bibring. Foto: Michael Bibring, privat
Diese beiden Fotos wurden im Amerling Gymnasium aufgenommen, der ehemaligen Schule meines Vaters. Er erzählte dort als Zeitzeuge seine Geschichte und durfte sich alte Aufzeichnungen in den Klassenbüchern ansehen. Ich war mit meiner Tochter Nikki anwesend.
Diese beiden Fotos wurden im Amerling Gymnasium aufgenommen, der ehemaligen Schule meines Vaters. Er erzählte dort als Zeitzeuge seine Geschichte und durfte sich alte Aufzeichnungen in den Klassenbüchern ansehen. Ich war mit meiner Tochter Nikki anwesend. Foto: Michael Bibring, privat
Michael Bibring
Foto: BKA / Florian Schrötter
Auf den Namensmauern finden sich die Namen meiner Großeltern Michael Bibring und Lea Ester Bibring. Ich erzähle in Schulen oft die Geschichte meines Vaters, so wie er es auch tat, als er noch lebte. Am Ende lautet die Botschaft immer: "Wir dürfen es niemals vergessen, nie wieder geschehen lassen." Nur leider geschieht es immer wieder an anderen Orten, wie jetzt in der Ukraine oder früher in Darfur oder Bosnien. Wir müssen einen Weg finden, für ein besseres Miteinander unter den Menschen. Der Schlüssel dafür ist Bildung. Die Namen auf den Namensmauern lassen die Menschen nicht los und führen unmittelbar dazu, dass sich Menschen die Frage stellen: "Worum geht es hier eigentlich?" Deshalb denke ich, dass einiges, was in den letzten 20 Jahren geschehen ist, um Bildung in diesem Bereich zu vermitteln, auch in Zukunft wichtig sein wird, um voranzukommen. Ich denke, dass die Namensmauern Gedenkstätte dafür ein sehr gutes Beispiel ist.

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte

Dokument

Michael Bibring – Die Geschichte hinter dem Namen (tagged PDF Deutsch + English) (PDF, 1 MB)