Evelyn Beck

Porträt Evelyn Beck
Foto: BKA/Florian Schrötter
Wenn du unsere Geschichte nicht kennst, dann kennst du auch deine eigene nicht.

Das Gespräch mit Evelyn Beck wurde am 7. Juni 2022 in Washington, D.C. geführt.

Evelyn (Evi) Beck wurde am 18. Jänner 1933 in Wien geboren. Als Kind konnte sie mit ihrem Bruder Edgar (Eddie) Torton und ihren Eltern mit dem letzten Schiff vor dem Krieg aus Italien in die USA flüchten, wo sie heute noch lebt.

Ich bin in Wien geboren, meine Mutter ebenfalls. Mein Vater war aus Polen. Wir wohnten gemeinsam mit meiner Großmutter mütterlicherseits, Omama, im 9. Bezirk ­in der Gussenbauergasse. Ich bin 1933 geboren, im selben Jahr, in dem Hitler in Deutschland die Wahl gewonnen hat. 1938 wurde unser Leben von einem Tag auf den anderen vollkommen auf den Kopf gestellt, als die Nazis in Wien einmarschierten und meinen Vater vor meinen Augen verhafteten. ­Ich glaube, es war kurz nach der "Kristallnacht". Er war ein ganzes Jahr lang weg, in Buchenwald und dann in Dachau. Wir hatten keinerlei Information über seinen Verbleib und hatten kein Geld, da die Nazis uns alles weggenommen hatten. Wir wurden aus unserer Wohnung rausgeschmissen und kamen in ein Ghetto in der Raffaelgasse auf der anderen Seite der Stadt. Bald danach kam mein Vater, auf für mich unerklär­liche Weise, zu uns zurück. Eine junge Frau im Jüdischen Museum in Wien hat mir erklärt, dass die Nazis anfangs nicht alle Juden ausrotten, sondern sie aus der Stadt bzw. aus Österreich verdrängen wollten. Dann wurde mein Vater ein zweites Mal verhaftet. Nach seiner Freilassung reisten wir ohne meine Großmutter nach Italien. Ich war sechs und mein Bruder vier Jahre alt, als wir Österreich 1939 verließen. Wir blieben ein ganzes Jahr lang in Mailand. Meine Omama hat den Krieg nicht überlebt. Sie wurde deportiert und ist entweder unterwegs oder in Auschwitz gestorben. Das war für mich sehr schwer zu akzeptieren, weil sie wie eine zweite Mutter für mich war. Eine meiner beiden Tanten in Prag überlebte nicht, ihr Mann ebenfalls nicht. Die andere Tante half uns über entfernte Verwandte in den USA mit der Ausreise. Wir fuhren mit dem letzten Schiff vor dem Krieg von Italien am 10. Juni 1940 ab, das ist unser Jahrestag. Nach unserer Ankunft in den USA lebten wir in Brooklyn, New York.

Die Geschwister, Eddie und Evi, glücklich gemeinsam ein Abenteuer zu erleben, beim Familienbesuch eines Fotostudios in Wien.
Die Geschwister, Eddie und Evi, glücklich gemeinsam ein Abenteuer zu erleben, beim Familienbesuch eines Fotostudios in Wien. Foto: Evelyn Beck, privat

Mein Bruder erinnert sich kaum noch an etwas, aber das Trauma steckt in seinem Körper und seinem Geist. Ich bin Psychologin, ich konnte meine Geschichte aufarbeiten, dies beinhaltete auch eine Therapie. Ich glaube, dass ich meinen Beruf nicht zufällig, sondern aufgrund meines eigenen Traumas gewählt habe. Meine gesamte Familie war komplett traumatisiert. Ich glaube, alles, was ich in meinem Leben getan habe – ich habe viele Bücher geschrieben, viel geforscht –, entsprang meinem Wunsch und dem Bestreben, eine bessere Welt zu schaffen. So nutzte ich das, was meiner Familie widerfahren ist, für etwas Gutes.

Irma Torton schoss dieses Foto von Eddie und Evi auf dem Schoß ihres Vaters im Park vor ihrer Wohnung in der Gussenbauergasse, wo sie vor dem "Anschluss" täglich spielten. Den Park gibt es noch, aber die Bäume sind inzwischen so hoch gewachsen, dass er nicht wiederzuerkennen ist.
Irma Torton schoss dieses Foto von Eddie und Evi auf dem Schoß ihres Vaters im Park vor ihrer Wohnung in der Gussenbauergasse, wo sie vor dem "Anschluss" täglich spielten. Den Park gibt es noch, aber die Bäume sind inzwischen so hoch gewachsen, dass er nicht wiederzuerkennen ist. Foto: Evelyn Beck, privat
Evi und Eddi, Hand in Hand, in einem der großen Parks in Wien, wahrscheinlich im Augarten oder Stadtpark, wo die Familie oft einen Spaziergang machte.
Evi und Eddi, Hand in Hand, in einem der großen Parks in Wien, wahrscheinlich im Augarten oder Stadtpark, wo die Familie oft einen Spaziergang machte. Foto: Evelyn Beck, privat
Familienfoto anlässlich Eddies Bar Mitzwa, aufgenommen in Brooklyn, USA. Damals hatten Mädchen zu diesem Übergangsritus zur Religionsmündigkeit noch keinen Zugang.
Familienfoto anlässlich Eddies Bar Mitzwa, aufgenommen in Brooklyn, USA. Damals hatten Mädchen zu diesem Übergangsritus zur Religionsmündigkeit noch keinen Zugang. Foto: Evelyn Beck, privat
Eddie und Evi in der Österreichischen Botschaft in Washington, D.C., als ihnen 2021 ihre österreichische Staatsbürgerschaft wieder verliehen wurde. Besonders behilflich in diesem komplexen Prozess war die Botschaftsangestellte Elisabeth Borges-Erath.
Eddie und Evi in der Österreichischen Botschaft in Washington, D.C., als ihnen 2021 ihre österreichische Staatsbürgerschaft wieder verliehen wurde. Besonders behilflich in diesem komplexen Prozess war die Botschaftsangestellte Elisabeth Borges-Erath. Foto: BKA/Florian Schrötter

Meine Eltern haben nie darüber nachgedacht, nach Wien zurückzuziehen, obwohl sie die Stadt liebten. Viele Jahre später besuchten sie die Stadt wieder, aber anfangs war dies undenkbar. Wir waren arm, das Unternehmen meines Vaters war von den Nazis gestohlen worden. Meine Mutter hatte ihre Mutter zurücklassen müssen. Als sie von ihrem Tod und dem Tod der Tante meines Vaters erfuhr, hatte sie eine Art Zusammenbruch. Die Frage, ob wir nach Wien zurückkehren, stellte sich somit überhaupt nicht.

Als ich 18 oder 19 Jahre alt war, beschloss ich, tagsüber zu arbeiten und am Abend auf das College zu gehen. So konnte ich genug Geld sparen, um im Sommer nach Europa zu reisen. Ich besuchte Wien, als es noch in Trümmern lag. Es gab noch immer die vier Besatzungszonen: die britische, die sowjetische, die amerikanische und die französische. Ich fühlte mich irgendwie von Wien angezogen und besuchte daher die Stadt. Ich wohnte bei zwei Freundinnen meiner Mutter, die in einem Versteck überlebt hatten, weil sie mit Christen verheiratet waren.

Nach dieser besonderen Reise kam ich noch mehrmals zurück: mit meinem Ehemann und meiner damals einjährigen Tochter. Meine Kinder wussten sehr früh, dass wir Immigranten waren. Wir hatten ein Fotoalbum und haben uns immer die Bilder von Omama und Tante Jenny darin angesehen.

Als Professorin besuchte ich Wien auch oft, um Vorträge zu halten. Ich habe die deutsche Sprache wieder erlernt. Wir haben zu Hause nämlich nicht wirklich Deutsch gesprochen, sondern einen Mischmasch aus Englisch, ein bisschen Deutsch und ein bisschen Jiddisch. Ich wollte aber meinen Lieblingsautor Thomas Mann auf Deutsch lesen, besonders sein Werk Tonio Kröger, in dem die Titelfigur nicht hineinpasste, genauso wie ich nicht hineinpasste. Ich fühle mich ganz anders, wenn ich Deutsch spreche. Wenn ich durch Wien spaziere und die alten Gebäude sehe, fühle ich mich sehr wohl. Ich bin fast 90 Jahre, aber ich fühle mich überhaupt nicht alt. Ich fühle mich jung, vor allem wenn ich Deutsch spreche. Vielleicht ist es das Kind in mir, das vor dem Krieg in Wien gelebt hat. Am Ende eines Vortrages habe ich einmal gesagt: "Ich trage ein paar unterschiedliche Hüte, aber ich sehe jetzt, dass der Wiener Hut mir auch ganz gut passt."

Ich bin aber nicht nur Jüdin, in meinen "späteren Jahren" (etwa mit 40) habe ich mich als lesbisch ­geoutet. Die Erfahrung, als Jüdin von den Nazis verfolgt und verhetzt worden zu sein, hat bei mir nachhaltig Spuren hinterlassen. Aber als ich mich als Lesbe outete, stellte ich fest, dass sogar in der lesbischen Community viele nichts über die jüdische Geschichte wussten oder sogar auf eine gewisse Art und Weise antisemitisch waren. Deshalb fing ich an, an einer Anthologie mit dem Namen "Nice Jewish Girls – A Lesbian Anthology" zu arbeiten, die ich schließlich herausbrachte. Dieses Buch vereint beide Seiten meiner Identität: die jüdische und die lesbische. Noch vor ein paar Jahren hätte ich nicht so offen darüber sprechen können. Ich bin froh, dass sich vieles in diesem Bereich verändert hat. Im Rahmen meiner Nachforschungen habe ich auch herausgefunden, dass schwule Männer und lesbische Frauen während des Holocaust verhaftet wurden, auch wenn sie keine Jüdinnen und Juden waren, das war mir davor nicht bewusst. Ich konnte mich nicht outen, als ich jünger war, es war einfach nicht möglich: Lesben wurden als verrückt angesehen und wenn ich mir in einer Sache sicher war, dann dass ich nicht verrückt bin.

Eddie und Evis Tante, Jenny Messinger (geb. Torton), lebte mit ihrem Ehemann in Prag. Beide wurden in Auschwitz ermordet. Bevor Hitler an die Macht kam, fuhr die Familie oft zu Besuch nach Prag und Evi sollte später an der Karls-Universität studieren.
Eddie und Evis Tante, Jenny Messinger (geb. Torton), lebte mit ihrem Ehemann in Prag. Beide wurden in Auschwitz ermordet. Bevor Hitler an die Macht kam, fuhr die Familie oft zu Besuch nach Prag und Evi sollte später an der Karls-Universität studieren. Foto: Evelyn Beck, privat
Anna Lonenfeld, Max Tortons Schwester, ist die einzige Tante von Evi und Eddie, die überlebt hat. Sie flüchtete von Wien nach Mauritius, später nach Israel. Sie wurde mit der Familie wieder vereint, als sie 1948 oder 1949 in die USA auswanderte.
Anna Lonenfeld, Max Tortons Schwester, ist die einzige Tante von Evi und Eddie, die überlebt hat. Sie flüchtete von Wien nach Mauritius, später nach Israel. Sie wurde mit der Familie wieder vereint, als sie 1948 oder 1949 in die USA auswanderte. Foto: Evelyn Beck, privat
Großmutter Sofie Lichtmann, ermordet 1940 in Auschwitz.
Großmutter Sofie Lichtmann, ermordet 1940 in Auschwitz. Foto: Evelyn Beck, privat

Evelyn Becks Großmutter Sofie Lichtmann ist eine der etwa 65.000 in der Shoah ermordeten Frauen, Männer und Kinder aus Österreich.

Ausschnitt von einer Shoah Namensmauer mit Namen und Geburtsjahren
Foto: BKA / Design & Grafik
Für mich ist die Namensmauern Gedenkstätte sehr wichtig und bedeutsam, weil Geschichte konkret und greifbar sein muss. Sie muss festgehalten werden, weil Geschichte immer auch ausgelöscht werden kann, wie wir bei all den Holocaustleugnern sehen. Es ist auch wichtig für die nächsten Generationen, um ein Gefühl von Geschichte in all ihren Facetten zu erhalten – für die Menschen, die überlebt haben und für die jungen Menschen, die jetzt und in Zukunft aufwachsen werden. Es gibt ein exzellentes Sprichwort, das besagt: "Wenn du unsere Geschichte nicht kennst, dann kennst du auch deine eigene nicht." Wenn du etwas ganz genau kennst, dann wird es nicht mehr passieren. Ich bin eine Professorin und ich glaube daran, dass Bildung uns retten wird.

Quelle: Das Denkmal. Das Buch zur feierlichen Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte. Wien, 2023. ISBN: 978-3-9505412-1-2.

Die Namensmauern Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten Kinder, Frauen und Männer aus Österreich

Um den österreichischen Opfern der Shoah einen würdigen Ort der Erinnerung zu widmen, entschied die österreichische Bundesregierung im Gedenkjahr 2018, die Pläne für eine Shoah Namensmauern Gedenkstätte des jüdischen Holocaust-Überlebenden Kurt Yakov Tutter aufzunehmen und umzusetzen.

Die Gedenkstätte ist innerhalb kürzester Zeit ein zentraler Ort der Begegnung und der Erinnerung an die österreichischen Opfer der Shoah geworden: nicht nur für Überlebende und deren Angehörige, sondern für all jene, die sich bewusst dort treffen oder zufällig an den Namensmauern vorbeigehen. Vielen wird beim Durchschreiten der Gedenkstätte das schiere Ausmaß des Unrechts, das vom Nationalsozialismus und seinen Anhängerinnen und Anhängern ausging, erst bewusst. Die Opferzahl erscheint mit 65.000 Namen unfassbar hoch und bildet doch nur einen Bruchteil der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ab. Sie stehen dort als in Stein gemeißeltes Zeugnis und lassen unwillkürlich die Worte "NIE WIEDER" aufkommen.

Shoah Namensmauern Gedenkstätte